Campuskolumne

Für viele Menschen ist laufen langweilig, stupid, oberflächlich: Stundenlang einen Fuß vor den anderen setzen. Kein Ball, keine Teamkollegen, keine Abwechslung. Und anstrengend ist es noch dazu. Für mich hingegen ist laufen das Wichtigste in meinem Leben. Das meine ich ernst. 100 Kilometer gehe ich die Woche, mindestens. Ich stehe extra früher auf, um das Laufen vor der Arbeit einzubauen, oder laufe gleich zur Deutschen Journalistenschule. Sonntags laufe ich nie unter 30 Kilometer, meine Ferien stricke ich nach Wettkämpfen, an denen ich teilnehmen will. Denn laufen ist für mich viel mehr als joggen. Laufen gibt mir Freiheit, Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit – es hat mich sogar aus der Magersucht gerettet. Laufen ist für mich leben.

Zwischen meiner Haustür und meiner Bürotür liegen eine Stadtgrenze und 16,08 Kilometer. Damit zähle ich zu den vielen, vielen Pendlern. Ich zähle aber nicht zu den vielen, vielen Pendlern, die ihren Arbeitsweg verdammen, die vom Pendeln krank und unzufrieden und dick werden. Denn ich stehe nicht im Stau, warte nicht an zugigen Bahnsteigen auf verspätete S-Bahnen, hole mir nicht die Grippe, weil ich in überfüllten Zügen mit Wildfremden auf Tuchfühlung gehen muss.

Ich pendle zu Fuß. Zwei-, dreimal pro Woche laufe ich zur Arbeit. 25-Liter-Laufrucksack auf den Rücken, Podcast auf die Ohren, Füße auf die Straße. Wenn ich ohnehin laufe, warum dann nicht zur Arbeit? Oder von der Arbeit weg? Da freut sich nicht nur das allwöchentliche 100-Kilometer-Ziel, sondern auch der Kopf.

Normalerweise gibt es beim Pendeln ja genau zwei Arten der Fortbewegung: stehen und hasten. Ersteres im Bus, an der Ampel, im Stau. Letzteres zum Bus, zur Ampel, zur Arbeit. Furchtbar stressig im Vergleich zum gemütlichen Dauerlauftempo, mit dem ich durch die Rush-Hour-Stadt trotte. Ich sehe mehr von ihr als nichts (durch U-Bahn-Fenster) oder nur den Straßenverkehr (durch verdreckte Fenster). Wie sich die Fassaden wandeln, zwischen Reihenhaussiedlung und Industrieviertel. Wie es am Großmarkt morgens mal nach Fisch, mal nach Brot, mal nach Rosmarin riecht. Wie der Kaffee am Stadtrand auf Tischen steht und drei Ecken weiter in Bechern durch die Gegend getragen wird. Ich studiere Schaufenster, entziffere Ampel-Aufkleber, lese die Schlagzeilen am Kiosk. Die Stadt ist für mich mehr als ein Netz verstopfter Straßen oder Bahnhöfe. Sie ist mein allmorgendliches Kaleidoskop.

Ich allein bestimme, wo ich langlaufe, ob ich ein paar Sprints einlege oder flaniere. Ich hänge von keinem Fahrplan ab, nicht vom Fahrstil anderer, nicht von funktionierenden Zugtüren. Stimmt schon, der Radler auch nicht. Er aber legt sein Leben in die Hände rücksichtsloser Autofahrer oder teilt seinen Radweg mit unüberholbaren Lastenradfahrern. Neunzig Minuten brauche ich für die Strecke vom Wohngebiet im Westen zum Industriegebiet in Osten. Neunzig Minuten, in denen ich weder in die genervten Gesichter anderer Pendler noch mein Handy schaue, in denen ich nicht an den Arbeitstag, sondern den Weg vor mir denke. Pendeln ist wunderbar.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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