Vor wenigen Tagen erst läuteten die Glocken des Abgesangs auf die alte Zeit. Das 21. Jahrhundert fordert Tribut und lässt alte Ideen schlecht aussehen. Schmerzlich müssen das zum Beispiel die sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa spüren. In Österreich haben diese nach einem stetigen Schrumpfungsprozess fast jegliche Machtperspektive verloren. In Frankreich wurde die „Parti Socialiste“ durch die Bewegung „En Marche“ mit ihrem ehemaligen Mitglied Emanuel Macron bei den Präsidentschaftswahlen 2017 völlig überrumpelt und erhielt gerade mal noch sechs Prozent der Stimmen. In den Niederlanden ist die ehemalig stolze Sozialdemokratie freilich schon seit Längerem auf jenem Niveau der Einstelligkeit gestrandet. Und nun, vor wenigen Tagen eben, versuchte Sahra Wagenknecht von der Linkspartei das Ende der SPD etwas schneller einzuläuten, als es wohl früher oder später ohnehin geschehen wird. Zumindest dann, wenn sich die SPD nicht von Grund auf neu ausrichtet. Aber das ist eine andere Geschichte.
Frau Wagenknecht schlägt eine neue, dezidiert „linke“ Sammlungsbewegung vor, in der alle (linken) Progressiven eintreten und damit eine neue Volkspartei erschaffen sollen. Damit provoziert sie nicht nur die erneute Spaltung der deutschen Sozialdemokratie, aus deren Schoß die Linkspartei ja selbst einmal hervorging. Nein, sie provoziert auch eine Spaltung ihrer eigenen Partei, denn außer ihrem Mann Oskar Lafontaine hat sich auch in der Linkspartei kaum jemand für diese Idee begeistern können. Im Gegenteil.
Es wäre absurd, die Idee Wagenknechts als utopisch oder auch nur als dumm abzutun. Ja, es braucht einen Aufbruch, und ja, es muss das Ende alter bundesrepublikanischer Gewissheiten eingeläutet werden! Aber ausgerechnet mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine an der Speerspitze? Ausgerechnet die Köpfe jenes Teils der Linkspartei, das für linkes Sektierertum, Nationalismus und Antisemitismus steht? Vom Totalitarismus haben sich ohnehin, so muss man leider nach wie vor konstatieren, bedeutende Teile der Linkspartei nicht freigemacht. Erst am vergangenen Samstag, zur traditionellen Kundgebung des Jahrestags der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, war fast die gesamte Parteispitze vertreten. An sich ist das natürlich unproblematisch. Allerdings reihte man sich wieder einmal kritiklos hinter die von einigen Demonstrantinnen hochgehaltenen Konterfeis Mao Zedongs, Lenins und sogar Stalins ein. Auch DDR- und FDJ-Fahnen wurden fleißig geschwenkt. Wirklich feine Vorbilder.
Das zeigt mal wieder deutlich: Die Linkspartei ist eine Retro-Partei, die versucht, alte Mythen der DDR und des Staatssozialismus aufzuwärmen. Ein Beispiel dafür ist der oktroyierte Antifaschismus, welcher zumindest von Teilen der Linkspartei zuverlässig selbst konterkariert wird, indem dessen Protagonisten nicht einmal den Mumm haben, sich von den allerschlimmsten Verbrechern des 20. Jahrhunderts glaubwürdig zu distanzieren. Wo bleiben eigentlich die Glocken für diese Vergangenheit?
Dabei braucht es eine Protestbewegung so dringend! Es bedarf einer neuen Linken, die aber undogmatisch und offen genug ist, auch mit aufgeklärten Liberalen und Konservativen nach Lösungen für die eklatanten Probleme zu suchen. Grund, wütend zu sein, gibt es schließlich genug! Nicht umsonst hat der im Jahr 2010 93-jährige Holocaust-Überlebende Stéphane Hessel das Pamphlet „Empört euch!“ verfasst. Die von ihm aufgerissene Problemlage hat sich keineswegs entspannt. Im Gegenteil: Das, was früher dystopische und fiktionale Erzählungen waren, die in Filmen, Büchern und Theateraufführungen eine schreckliche Welt von morgen zeichneten, wird wohl tatsächlich Realität. Denn heute sind es nicht mehr nur Künstler, die diese Dystopien entwerfen, sondern Wissenschaftler.
Fast alle jener Wissenschaftler, die sich mit der Klimaerhitzung unserer Tage befassen, zeichnen die gravierendsten Folgen auf. Der Weltklimarat zum Beispiel befürchtet in den kommenden Jahrzehnten einen Anstieg der Zahl der Armen um weit mehr als 100 Millionen Menschen. Hintergrund sind immens steigende Lebensmittelpreise aufgrund ausgebrannter Erde, vor allem in den ärmsten Regionen der Welt. Der Club of Rome, ein Zusammenschluss von Experten verschiedenster Disziplinen, fordert nicht weniger als eine „neue Aufklärung“, um der irrationalen und völlig verfehlten Politik unserer Tage entgegenzusteuern. Dabei gäbe es, so die einhellige Meinung der Wissenschaftler, die Möglichkeit, diesen Prozess abzufedern. Doch dafür benötigt es eben den politischen und gesellschaftlichen Willen. Und dieser ist, wie man an den fatalen Verhandlungsergebnissen der „Groko-Sondierungen“ ablesen kann, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland nicht vorhanden. Wieder ein vierjähriger Stillstand also. Zum Gute-Nacht-Sagen ist es allerdings bereits zu spät.
Text: Martin Linke
Foto: Amac Garbe