Nachdem bereits dreieinhalb geschäftige Tage des Filmfest Dresden 2017 vorüber sind, wird es Zeit, auch einmal den zweiten Themenschwerpunkt der 29. Festivalausgabe zu beleuchten.
Eine Szenerie wie aus den Achtzigern – zumindest optisch. Luna sitzt auf dem Dach des Hauses in Damaskus, in dem sie zusammen mit ihrem Vater wohnt. Sie beobachtet ihre Stadt aus der Vogelperspektive und, dank Fernglas, mit Augen so scharf wie die eines Adlers. Und so fügt sich ihre Umgebung zusammen aus vielen einzelnen Szenen, wie ein schönes Mosaik. Später wird sie sich darüber noch mit Osama streiten, denn der findet seine Heimatstadt richtig hässlich. Osama hat allerdings auch nicht immer die Möglichkeit, die syrische Hauptstadt von deren schönster Seite zu betrachten. Er begegnet ihr auf Augenhöhe und da gibt es tagtäglich eher mal eines auf die Mütze, wenn sein Vater ihn wieder beim Herumhängen und Rauchen erwischt. Aber nicht nur bei Osama und Luna geht die Sicht auf die Dinge auseinander, generell scheint die syrische Gesellschaft gespalten zu sein in Alfoz Tanjours Kurzfilm „A Little Sun“. Der ist eigentlich aus dem Jahre 2007 und scheint nur viel älter, da er noch mit einer richtigen Filmkamera gedreht wurde.
Vielleicht ist der erste Eindruck, dass die Szenen in Tanjours Film einer vergangenen Zeit entstammen, aber gar nicht nur der Tatsache geschuldet, dass das Bild kriselt und die Farben von heutigen Sehgewohnheiten abweichen. Der syrische Filmemacher fängt seine Heimat in einer Situation ein, in der sie kurz davor zu sein scheint, aus einem langen Schlaf zu erwachen. Lunas Vater sitzt den ganzen Tag an Rundbriefen, in denen er die politische Lage Syriens kritisiert und zu Veränderung aufruft. Lunas Onkel hingegen sieht alles etwas anders: Er macht sich nichts aus Revolutionsschriften und kümmert sich stattdessen inbrünstig um seine Tauben. Es ist die Zeit vor dem Arabischen Frühling und die Unruhen brodeln bereits unter der Oberfläche. Aber Tanjour ahnt das zerstörerische Potential der schwelenden Meinungsverschiedenheiten zwischen der syrischen Regierung und dem unzufriedenen Teil der syrischen Bevölkerung bereits voraus, denn „A Little Sun“ endet tragisch und das gerade für die schwächsten Gesellschaftsmitglieder: die Kinder.
Alfoz Tanjours eindrückliches Werk über die unheilvollen Vorboten der verheerenden Entwicklungen, die Syrien bis heute heimsuchen, ist der Auftakt eines Filmprogramms mit dem Titel „Fokus Syrien 3: Geschichten des Aufbegehrens“. Dieses ist wiederum Teil eines ganzen Themenschwerpunktes im Programm des 29. Filmfestes Dresden, welcher sich eingängig mit der syrischen Filmkultur und deren Blick auf die Entwicklungen im Land beschäftigt. Die drei dazugehörigen Kurzfilmprogramme sollen ein chronologisches Gesamtbild syrischen Filmschaffens sowie einen Überblick über dessen relevanteste Themen bieten. Angefangen in den 1970er-Jahren („Fokus Syrien 1“), wo Filmemacher wie Omar Amiralay und Ossama Mohammed den Grundstein für das eigenständige Autorenkino Syriens legten, über die Entwicklungen der 90er-Jahre („Fokus Syrien 2“) hin zur heutigen Zeit.
Stets zeichnete sich das syrische Kino dabei durch seine gesellschaftskritische Ader aus, wenn auch auf unterschiedlichste Weisen. Der abschließende und kontemporärste Block beispielsweise, zu dem auch „A Little Sun“ gehört, teilt sich in zwei Hälften, von denen der erste Teil vorwiegend aus Spiel- und Animationsfilmen, der zweite Teil aus dokumentarischen Werken besteht. Egal wie fantasievoll jedoch die nicht-dokumentarischen Beiträge auch immer sind, alle fußen sie auf relevanten und akuten zeitgeschichtlichen Geschehnissen. Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt so und es entsteht ein unvergleichlich komplexeres Bild von Syrien, als es sämtliche Nachrichtenportale dieser Welt zusammen bis dato gezeichnet haben. Hervorgehoben sei bei „Fokus Syrien 3“ deshalb auch noch der Film „Suleima“ von Jalal Maghout.
Maghouts Animationsfilm aus dem Jahr 2014 weiß nicht nur durch seine aufwändige und atmosphärische Tricktechnik zu überzeugen. Es ist ein eindrückliches Porträt einer Syrerin jenseits der 40, welche bereits ihr ganzes Leben im Kampf verbracht hat. Jedoch sollte man sich Suleima deswegen nicht als eine professionelle Widerstandskämpferin vorstellen, sondern muss sie als eine recht gewöhnliche Frau wahrnehmen, wie es sie in Syrien zu Tausenden gibt. Sie leistet nicht nur ihren Beitrag zur syrischen Revolution, indem sie die eigene Meinung durch keine Bedrohung unterdrücken lässt, sondern muss zugleich auch ihre gleichgestellte Daseinsberechtigung als Frau gegen eine patriarchale Gesellschaft verteidigen. Anhand von Suleimas Leidensgeschichte zeigt sich, dass die Konflikte in Syrien nicht nur durch moderne Waffen ausgetragen werden, sondern auch traditionell in der dortigen Gesellschaft verwurzelt sind. Ein oberflächlicher Waffenstillstand wird also nie genügen, es müssen die wirklichen Ursprünge der tief sitzenden Meinungsverschiedenheiten aufgedeckt werden.
Wer noch erleben möchte, wie sich die syrische Filmlandschaft der letzten Jahre daran versucht hat, die vielschichtige und tiefgründige Situation ihres Landes einzufangen, hat dazu am heutigen Samstag, den 8. April, noch einmal Gelegenheit. Um 22 Uhr werden die sieben Kurzfilme des Filmprogramms „Fokus Syrien 3“ ein letztes Mal im Zuge des diesjährigen Filmfestes gezeigt, und zwar im Lang-Saal der Schauburg. Diese finale Aufführung ist auch insofern interessant, da noch einmal der Filmemacher Jalal Maghout anwesend sein wird, um diverse Fragen rund um die Entstehung seines Animationsfilms „Suleima“ zu beantworten. Die ebenfalls zum Fokus Syrien gehörende Retro „In Syrien auf Montage“ wird ebenfalls am Samstag um 14.30 Uhr im Tarkowski-Saal gezeigt. Karten können, wie für jede weitere noch ausstehende Veranstaltung des 29. Filmfest Dresden, entweder online oder in den Spielstätten besorgt werden. Der Eintritt beläuft sich normal auf 7,50 Euro. Mit Ermäßigung kostet eine Karte 5 Euro.
Text: Carl Lehmann
Foto: Amac Garbe