OER, das heißt: Open Educational Resources, frei zugängliche Lehre. Es heißt aber auch: Verdammt viel zu tun.
Wenn Herr Müller oder Frau Meier in Zukunft Interesse an Schaltkreisen oder Hegel haben, dann nehmen sie kein Lexikon mehr in die Hand. Sie suchen auch nicht ziellos im Netz — sondern können online verfügbares Lehrmaterial von Universitäten nutzen. So zumindest stellen sich das Anne Lauber-Rönsberg und Sebastian Horlacher vor. Die Juniorprofessorin für Bürgerliches Recht, Immaterialgüterrecht sowie Medien- und Datenschutzrecht und ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden sind die Köpfe des Dresdner Teils von OERsax, einem Verbundprojekt von TU und HTW Dresden sowie der TU Bergakademie Freiberg, das Mitte März aus der Taufe gehoben wurde.
OER steht für Open Educational Resources, Lehrmaterialien also, die auf Plattformen wie Moodle oder OPAL frei online zugänglich gemacht werden. Alles, was man dann noch braucht, um Folien, Handouts, Podcasts oder Multimedia nutzen zu können: einen Internetzugang. „Was Open Access für die Forschung, ist Open Educational Resources für die Lehre“, sagt Lauber-Rönsberg.
Doch der Weg bis dahin ist lang. Während sie auf der internationalen Bühne, vorangetrieben unter anderen von UNESCO und OECD, schon seit den frühen Nullerjahren präsent sind, werden OER in Deutschland erst langsam zum Thema. Open Educational Resources sind deshalb vor allem eines: work in progress. Ziel von OERsax ist es daher, überhaupt erst einmal die Strukturen für offene Lehrmaterialien zu erschließen.
Elementar sind dabei einerseits rechtliche Fragen: „Open“ ist kein Synonym für „laissez faire“, auch OER werden lizenziert — allerdings unter sogenannten Freien Lizenzen, dank derer sie eine attraktive Alternative zu dem restriktiven und teilweise unklaren Urheberrecht sind: Freie Lizenzen erlauben die kostenlose Nutzung und Weiterverbreitung, teilweise sogar das Verändern der Werke. Dass der Studierende von morgen an seinem eigenen Lehrbuch mitschreibt, glaubt Lauber-Rönsberg zwar nicht. Aber er hätte viele Möglichkeiten, das Material für Referate und Handouts weiterzuverwenden, es in anderen Kontexten neu zusammenzusetzen. „OER ist aus Sicht der Studierenden grundsätzlich positiv zu beurteilen“, findet Jan-Malte Jacobsen, hochschulpolitischer Sprecher des Studentenrates der TU Dresden. Er hofft nicht nur darauf, dass OER der Digitalisierung der Lehre, vor allem auch E-Learning-Formaten, einen Schub verleihen wird. Auch bei Jacobsen fallen Schlagworte wie „lebenslanges Lernen“ und „offene Bildung“.
Denn das ist der Kern von OER: Es soll vor allem auch Universitätsexternen nutzen. Bildung für alle bleibt aber eine schöne Vision, solange das Material nicht einfach online zu finden ist. Genau dafür sorgen sogenannte Metadaten, also Daten über Daten, die Objekte online auffindbar und identifizierbar machen. Die Entwicklung von Metadatenstandards ist daher eine von vielen technischen Fragen, die OERsax — auch in Kooperation mit ähnlichen Projekten anderer Bundesländer und Institutionen wie der SLUB — klären will.
Immerhin kann man Folien und Co. schon jetzt beim Hochladen auf OPAL mit einer Markierung versehen, die sie über Suchmaschinen auffindbar machen. Doch Lauber-Rönsberg sagt, sie selbst habe das „erst vor Kurzem entdeckt.“ Auch das ist also eine Baustelle: Das Konzept OER muss bei den Dozierenden ankommen. OERsax informiert deshalb nicht nur über bestehende regionale und überregionale Angebote, sondern schult auch Multiplikatoren: Wenn ein Dozierender gute Erfahrungen gemacht hat, so der Gedanke, wird er künftig nicht nur die Lehre online frei verfügbar machen, sondern OER auch weiterempfehlen. Eine Art Schneeballeffekt.
Umso wichtiger ist es, nicht nur das Was und das Wie zu vermitteln, sondern auch das Warum. Übertriebene Erwartungen schraubt Lauber-Rönsberg dabei zurück. „Die Aufgabe von OER ist es nicht, zur Teilhabe zu motivieren“, sagt sie. „Aber wer das Interesse hat, soll auch die Möglichkeit haben.“ Und das, ergänzt ihr Mitarbeiter Horlacher, über verschiedene Hochschulen hinweg: „So wird auch das Meinungsbild breiter.“
Allein diese ideelle Dimension werde als Motivation aber nicht ausreichen. „Für den einzelnen Dozenten kann OER durchaus erst mal einen Mehraufwand bedeuten.“ Ein Mehraufwand aber, der sich in besserer Sichtbarkeit und dem Austausch mit Kollegen anderer Institute oder Universitäten auszahlt. Das wiederum kann auch ein Anreiz zur Qualitätssteigerung sein: Wer weiß, dass seine Folien nicht mehr nur von ein paar Studierenden gesehen werden und noch dazu mit ähnlichen Angeboten vergleichbar sind, der wird sich vielleicht dreimal überlegen, ob Fließtext-Folien ohne Seitenzahlen wirklich das didaktische Nonplusultra sind. Qualitativ hochwertige, frei zugängliche Lehrmaterialien könnten dann für die Unis zum Marketinginstrument werden.
Und die TUD selbst? Hält sich bedeckt. Man „begrüßt“ die Bestrebungen, OER in Sachsen voranzutreiben, so Pressereferentin Claudia Kallmeier. Der Grund dieser Vorsicht sind die vielen offenen Fragen: rechtlich, technisch, didaktisch. Nicht umsonst ist OERsax ein Forschungsprojekt — nur sind die für gewöhnlich befristet, 2018 läuft die Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus. Bis dahin sollte OERsax laut Lauber-Rönsberg zum „Selbstläufer“ werden. Eine Zäsur aber wird die Hochschullehre nicht erleben. „Wenn wir für OER sensibilisieren“, sagt Horlacher, „dann wäre das schon ein gutes Ergebnis.“
Text: Luise Martha Anter
Foto: Amac Garbe
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