Morgen ist ein neuer Tag

Er liegt da. Er schnarcht. Zusammengerollt wie ein Burrito liegt er auf seinem Bett, während ihn die kühle Nachtluft umweht. Manchmal entweichen seinem Mund Satzfetzen, doch ich habe es aufgegeben, sie zu etwas Sinnvollem zusammenzusetzen. Und ich habe aufgehört sie nach Lüge und Wahrheit zu trennen. Die einzige Wahrheit im Raum ist: Das ist nicht der Mann, den ich mal gemocht habe. Das ist seine Gefährtin, die Sucht.

Das Ende eines Weges

Es sollte ein schöner Abend werden. Seine depressive Episode hatte ihm in den vergangenen Wochen einige Schläge versetzt, doch ich gab nicht auf. Jeder Schritt vorwärts ist ein Schritt in die richtige Richtung, dachte ich. Ich wollte mit ihm spazieren gehen, die untergehende Sonne genießen. Ich wollte für einen Moment unsere Freundschaft festhalten. Ich wollte den Kampf, den er seit Wochen mit sich ausfechtet, ausblenden, nur für ein paar Augenblicke. Doch schon die Vorzeichen waren gegen uns. Als er ankommt, riecht er komisch, aber ich rede mir ein, dass das ein neuer Saft ist. Seinen torkelnden Gang schiebe ich auf eine Verletzung. Meine Intuition sagt mir, dass etwas falsch ist. Doch die Freundin in mir glaubt ihm, als er sagt, er hätte nicht getrunken.

Unser Spaziergang dauert 30 gute Minuten. In diesen redet er relativ klar, kann auf Fragen durchdacht antworten. Aber er spricht wahllos Menschen am Wegesrand an. Er mischt sich in Gespräche ein, sagt, wie gut ihm das Wetter und die Wärme gefallen. Ich spüre, dass es den Leuten unangenehm ist. Seine Geselligkeit, die ich stets an ihm bewundere, schlägt hier ins Gegenteil um. Denn er ist nicht mehr in der Lage, die Grenzen anderer Menschen zu erkennen. Und er kann nicht erkennen, dass er angetrunken ist. Die Jugendlichen auf den Bänken belächeln das, die Älteren schauen verärgert.

Als er sich nach 30 Minuten ein Bier an einem Stand holt,  „weil man das eben so macht“, weiß ich, dass der Abend verloren ist.

Ein Bild, das keines ist

Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich Alkoholiker nur aus dem Fernsehen. Menschen mit rauen Stimmen und eingefallenen Gesichtern, die schon vormittags mit einer Bierflasche vor dem Supermarkt stehen. Sie sind nicht Teil meiner Welt. Ein problematisches Trinkverhalten ist nicht Teil meiner Welt. Und auch von ihm habe ich oft gehört, dass er nicht so einer sei. Auf den ersten Blick hat er recht: Sein Gesicht wirkt frisch, der Gang ist aufrecht, die Klamotten sind sportlich, aber ordentlich. Seine Züge wirken wissend, jemand, der gefestigt ist in seinem Leben. Eine Person, die einen Raum betritt und sofort ein Teil der Gemeinschaft ist.

Doch wenn man genau hinguckt, bemerkt man schon seit Wochen, dass seine Haltung etwas gekrümmt ist. Seine Bewegungen sind schleppender, das Lächeln gewollt. Selbst seine Sprache verändert sich. Immer wieder stockt er, bricht ab, springt zum nächsten Thema. Er ist weniger zugänglich. Seine Freizeit, einst lebendig, beschränkt sich auf Spaziergänge. Der Mann, der so selbstbewusst durchs Leben schreitet, wirkt orientierungslos.

Und auch manche Freunde hat er getäuscht, die behaupten, es ginge im gut. Ja, er hätte eine schlechte Phase, aber jetzt funktioniere er wieder. Wenn er gute Tage hat, wirkt alles normal. Doch dann folgen die schlechten Tage. Die Abstürze. Und wieder Depression. Manche Geschwister können sich auf den Tod nicht leiden, aber Sucht und Depression halten zusammen, wenn sie jemanden zugrunde richten.

Eine Frage der Täuschung

Ich habe gewusst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber ich habe das Ausmaß unterschätzt. Er auch. In klaren, trockenen Phasen konnte er gut darüber reden, war reumütig, sogar herablassend gegenüber den „richtigen“ Alkoholikern. Aber wenn er getrunken hatte, verleugnete er, dass er ein Problem hatte. Und ich habe ihm geglaubt. Wenn er Treffen absagte, dachte ich, dass er spontan krank geworden ist. Wenn er mich anrief, mit verwaschener Sprache, ständigen Wiederholungen, dann vermutete ich, dass er einfach erschöpft war. Manchmal wollte er am Telefon über irgendwas reden. Wurde dann unterbrochen, wollte zurückrufen. Tat es nicht. Oft genug habe ich mir Sorgen gemacht. Doch er rief mich am nächsten Nachmittag an und hatte vergessen, dass wir gesprochen hatten. Lange Zeit dachte ich, dass sei eine Anhäufung von Zufällen. Oder schlechter Charakter. Dass das etwas mit Alkohol zu tun hatte, wollte ich lange Zeit nicht wahrhaben.

Wie erzieht man einen Menschen?

Ich dachte, das sei einfach. Ich habe in seiner Gegenwart fast nie getrunken. Manchmal habe ich nachgefragt, ob es in Ordnung ist. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass es normal ist. Ich habe ihn angesprochen, wenn ich in seiner Wohnung Bierflaschen gefunden habe. Ich habe ihn auch auf unserem Spaziergang angesprochen. Aber darf ich jemandem verbieten zu trinken?

Ich glaube daran, dass Menschen ihre Probleme erkennen und beheben. Ich will mich nicht über sie stellen, sondern sie ermutigen, das Richtige zu tun. Für manche Menschen ist Druck eher hinderlich, andere brauchen ihn. Ich übe ungern Druck aus. Daher widerstrebt es mir, ihm zu sagen, er sollte nicht trinken.

Hätte ich konsequenter sein müssen? Ich bin die Person, die Protokoll führt über jede Eskapade. Aber vielleicht war das nicht der richtige Weg?

Wo stehe ich?

Ich war in den vergangenen Wochen oft wütend auf ihn. Weil er mich teilhaben lässt an allem. Seine Unzuverlässigkeit, Unberechenbarkeit, die ständigen Sorgen. Aber auch, weil er einen Kampf mit mir selbst auslöste. Ich habe ihn oft genug sagen hören, dass er aufhört. Die Träumerin in mir glaubte ihm, jedes Mal. Die Realistin wusste, dass es eine Lüge ist. Er wirkte nie wie jemand, der an seinen Problemen arbeitet. Der sich entschuldigt für seine Taten. Manchmal wirkte er verzweifelt, reuevoll, auch Scham habe ich erkennen können. Er weiß, dass etwas nicht richtig ist, dass er Menschen verletzt. Aber er kann es nicht greifen.

Als ich ihn dort liegen sehe, scheinbar friedlich in seinem Burrito, empfinde ich nichts. Ich habe ihn schon einmal schlafen gesehen, nach einem guten Theaterabend. Er hat glücklich vor sich hin geschnarcht und ich habe eine tiefe Form der Liebe und Dankbarkeit gespürt. Das Leuchten, das selbst im Schlaf von ihm ausgeht: An diesem Abend ist es nicht da. Er ist ein kleines Häufchen, das schwarz vom Schatten der Nacht angestrahlt wird. Der Mann, dem ich vor vielen Jahren meine Zuneigung und Loyalität versichert habe, ist weg. Und wird so schnell nicht wiederkommen.

Und ich, ich empfinde kaum Mitgefühl. Es ist einfach aufgebraucht. Ich suche in mir nach Kraft, um ihn zu motivieren, die kleinen Fortschritte zu loben. Ich suche Liebe, aber selbst im hintersten Winkel finde ich nur Leere. Kranken Menschen sollte man helfen, aber die Sucht ist egoistisch – sie nimmt nur. Sie hat nicht nur den Menschen ausgesaugt, sondern auch unsere Beziehung.

Eine Position zu finden, das ist schwer. Unter seinen Ausfällen zu leiden. Den Mann zugrunde gehen sehen und sich überfordert zu fühlen, weil nichts hilft. Gleichzeitig zu spüren, dass kein Platz für mich als Mensch ist, das tut weh. Das belastet mich. Aber sich abzugrenzen, das fühlt sich falsch an. Das eigene Wohl über das eines anderen Menschen zu stellen, klingt egoistisch. Aber es ist besser.

Ein paar Fakten

Der Begriff „Alkoholismus“ wurde 1849 vom Schweden Magnus Huss erstmals verwendet und betrifft in Deutschland schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen; ca. 7 Millionen weisen einen riskanten Alkoholkonsum auf.

Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) weist dem Alkoholismus die Nr. F10.2 Abhängigkeitssyndrom zu und nennt mehrere Kriterien, von denen drei binnen eines Monats gleichzeitig vorhanden sein müssen: starkes Verlagen, verminderte Kontrollfähigkeit beim Konsum, Entzugserscheinungen, Toleranz, Einengung des Denkens auf Alkohol, anhaltender Konsum trotz sozialer und körperlicher Schäden.

Ein Gedanke am Schluss

„Sucht ist eine Krankheit“ ist leicht gesagt. Aber es ist schwer, die Sucht von dem Menschen zu trennen. Sie wie einen Umhang zu betrachten, der die Person darunter versteckt. Die Hochs und Tiefs, die Reue, die Verleugnung, das Herunterspielen. Die Sucht ist klug darin, sich zu tarnen. Der Außenwelt das Gefühl zu geben, alles sei normal.

Dennoch sollten wir nie den Glauben daran verlieren, dass sich Menschen ändern. Und wir sollten für sie da sein, wenn sie es wahrhaftig versuchen.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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