Die Party ist vorbei

30 Gramm. Das ist die Menge an reinem Alkohol, die ein erwachsener Mann laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) täglich höchstens zu sich nehmen sollte. Für erwachsene Frauen werden maximal 20 Gramm empfohlen – das entspricht ungefähr 0,5 Litern Bier beziehungsweise einem Glas Wein oder Sekt. Pro Woche sollten außerdem mindestens ein bis zwei abstinente Tage drin sein. Peter sagt dazu: „Auf die Weihnachtsgans würde man sich ja auch nicht so freuen, wenn man sie jeden Tag haben könnte.“ Peter ist 56, Sachse und trockener Alkoholiker. Ein Bär von einem Mann, groß, kräftig und gemütlich. Er sieht nicht so aus, als ob ihn irgendetwas aus der Ruhe bringen könnte. Und doch: Manche Situationen des Alltags sind für ihn eine Herausforderung, immer aufs Neue. Feiern, traurige Momente, Langeweile: Jedes Mal muss er sich daran erinnern, nicht zu trinken. Von Cola hält er sich fern. „Das Suchtgedächtnis“, sagt er. Cola mit Braunem war sein Lieblingsgetränk. Trinkt Peter heute Cola, hat er sofort auch den Schnapsgeschmack im Mund – und Appetit. „Das Problem ist“, sagt er, „dass Alkohol überall dazugehört. Fußball ohne Bier, Italienisch essen ohne Rotwein, Silvester ohne Sekt? Der Übergang vom gesunden Konsum zur Sucht ist fließend, man bemerkt das nicht.“

Wenn aus einem Glas zehn werden

Dem stimmt auch Anja Kräplin, Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Abhängiges Verhalten, Risikoanalyse und Risikomanagement am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden, zu. Ob eine Sucht – unter Wissenschaftlern „Störung durch Substanzkonsum“ genannt, um den abwertenden Begriff Sucht zu vermeiden – vorliegt, werde nie an der konsumierten Menge festgemacht: „In Forschung und Praxis haben sich verschiedene klinische Kriterien zur Diagnose durchgesetzt. Trifft eine bestimmte Anzahl der Kriterien zu, wird z. B. von einer Alkoholabhängigkeit gesprochen.“ Entscheidend ist dabei unter anderem, ob Betroffene Zeit und Menge des Alkoholkonsums noch kontrollieren können. Man war eigentlich zum Fußballspielen verabredet, ist aber stattdessen schon wieder in der Kneipe gelandet? Man wollte wegen der Prüfung nächste Woche eigentlich nur ein Glas trinken, aber irgendwie sind daraus dann doch zehn geworden?

Kurzzeitiger Spaß und die Langzeitfolgen

Wer sich jetzt fragt, ob er möglicherweise auch zu viel trinkt, für den hat Sabine Stiehler von der Psychosozialen Beratungsstelle des Dresdner Studentenwerks die Antwort: „Ja.“ Es sei ganz simpel, sagt sie: Wer sich frage, ob er zu viel trinke, der trinke schon zu viel. Das Problem sei auch unter Studenten sehr relevant. Zahlen der WHO untermauern das: Ungefähr 25 Prozent der Todesfälle bei den 20- bis 39-Jährigen weltweit sind demnach die Folge von übermäßigem Alkoholkonsum. Die Statistik aus dem Tätigkeitsbericht der Psychosozialen Beratungsstelle spricht jedoch eine andere Sprache. Geht man nach deren Zahlen, hat der Anteil an Personen, die wegen Problemen mit Alkohol und anderen Drogen die Beratungsstelle aufsuchen, über die vergangenen Jahre stetig abgenommen. Wie lässt sich das erklären? „Es gibt unter den Studenten kaum ein Problembewusstsein zu dem Thema“, meint Sabine Stiehler. „Sie trinken, zum Teil in großen Mengen, aber weil das in der Studienzeit noch keine gesundheitlichen oder sozialen Folgen hat, erkennen sie das Problem darin nicht.“ Betroffene holen sich entweder gar nicht erst Hilfe oder suchen die Ursachen ihrer Probleme an der falschen Stelle. Alkohol sei für die meisten ein regulärer Teil des Alltags.

Gestörter Konsum

Anja Kräplin hält dafür eine wissenschaftliche Erklärung bereit: „In Deutschland haben wir eine gestörte Trinkkultur. Es ist in der Gesellschaft nicht klar geregelt, wie mit Alkohol umgegangen wird und riskante Formen des Umgangs mit Alkohol sind weit verbreitet. Das führt dazu, dass im Ernstfall meist erst sehr spät reagiert wird.“ Wer am Montagmorgen im Büro über seinen schlimmen Kater jammert und die Saufgeschichten vom Wochenende auspackt, wird eher Gelächter als besorgte Blicke ernten. Außer vielleicht von denen, die die zerstörerische Kraft von Alkohol kennen. Peter sieht unglücklich aus, als er sagt: „Ich wünsche mir wirklich, dass wir das im Alltag ein bisschen herunterfahren können. Und in der Werbung. Vor allem in der Werbung!“ Kopfschüttelnd erzählt er von einem Winterbasar im Kindergarten, bei dem der Glühweinstand den besten Umsatz erzielte. Er findet das absurd und traurig, aber jemand anderes würde diese Geschichte lachend als Stimmungsmacher erzählen. Mit einem Glas Wein in der Hand.

Das „Eisberg-Phänomen“ nennt Anja Kräplin das: „Probleme mit dem Trinken: Das haben für uns nur diejenigen, die auf der Parkbank schlafen und morgens mit einem Schluck Klarem aufstehen. Dass unter der Wasseroberfläche der allgemein üblichen Trinknormen ein viel größerer Teil des Eisbergs lauert, der ebenso gefährlich ist, das nehmen wir gar nicht wahr.“ Auch Peter weiß, dass das Trinken in allen Gesellschaftsschichten ein Problem ist. Man glaube gar nicht, sagt er, welche Leute man auf Entzugskuren treffe – vom Arbeitslosen bis hin zum erfolgreichen Geschäftsmann sei alles dabei.

Schlechter Umgang?

Die Gründe jedoch sind bei jedem andere. Sabine Stiehler, die Leiterin der Psychosozialen Beratungsstelle, glaubt, dass für Studenten auch die Struktur des Studiums ausschlaggebend sein könnte: „Man sagt ja: Gelegenheit macht Diebe. Und im Studium fällt es nun mal nicht auf, wenn man mal eine Vorlesung schwänzt, weil man seinen Rausch ausschläft.“ Außerdem sei es gerade die Studienzeit, in der die eigenen Werte geprägt würden von denen der Freunde und Menschen um einen herum. Auch beim Thema Alkohol: „Wenn man im Studium Freunde hat, die viel und häufig trinken, ist es wahrscheinlich, dass man das übernimmt – und beibehält.“ Eine weitere Beobachtung hat die Soziologin gemacht: In den vergangenen Jahren habe es zugenommen, dass sich junge Leute untereinander vergleichen. Wer dabei zu dem Schluss komme, anders zu sein als die anderen, passe sich an.

Es sind die kleinen Dinge

„Es wird einem ja nicht leicht gemacht“, sagt Peter und meint dasselbe: den Gruppenzwang. „Wenn man nicht trinkt, ist man oft außen vor. Aber da muss man stark sein.“ Im Gespräch betont er immer wieder: Alkohol sei ein Genussmittel und solle auch als solches eingesetzt werden. Nicht, weil alle trinken. Nicht des Rausches wegen. Sondern wenn, dann um die Getränke bewusst zu genießen. Entschleunigung, das sei dabei auch ein gutes Stichwort: „Man muss nicht jeden Trend mitmachen. Oft genügt es auch einfach, die Augen aufzusperren und sich an den kleinen Dingen des Alltags zu erfreuen.“ Er erzählt, wie sehr er sich freut, wenn er Kinder spielen sieht, und davon, wie er neulich zwei Spatzen in der Sonne beobachtet hat. Man muss automatisch mitlächeln, wenn er davon redet.

Lang hält sie jedoch nicht an, seine Leichtherzigkeit. Dann schluckt er wieder und denkt daran zurück, wie schwer es ihm am Anfang fiel, nicht zu trinken: „Nicht nur, dass man lernen muss, sich an anderen Sachen zu erfreuen – man hat auf einmal eine ganze Menge Freizeit, mit der man nichts anzufangen weiß. Und um zu wissen, wie man die Zeit gern nutzen würde, muss man sich erst einmal selbst kennenlernen.“ Für Peter war die ehrenamtliche Arbeit einer seiner rettenden Anker: Er ist im Schulmuseum und als Suchthelfer aktiv. Auch Selbsthilfegruppen und andere Möglichkeiten, sich auszutauschen – da ist er sich mit Sabine Stiehler einig – sind ein wichtiger Faktor, um wieder auf die Beine zu kommen.

Die Alkohollobby auf Erfolgskurs

Und dennoch: 90 bis 95 Prozent aller Alkoholiker auf dem Weg aus der Abhängigkeit, so schätzt Peter, werden schon im ersten Jahr rückfällig. „Es ist kein einfacher Weg“, gibt er zu. „Man trifft auf Unverständnis. Wie oft ich schon gefragt worden bin, warum ich nicht einfach aufhöre zu trinken … Die Leute verstehen nicht, dass Alkohol auch eine Droge ist.“

Was fehlt sind Aufklärung und Prävention – das Schicksal der deutschen Trinkkultur liegt auch in den Händen der Politik. Auch wirtschaftlich gesehen ist die im Handlungszwang: Fachleute schätzen laut dem Südwestrundfunk, dass durch alkoholbedingte Krankheiten und Frühverrentung sowie alkoholbedingte Unfälle und Kriminalität jährlich Kosten in Höhe von 26 Milliarden Euro entstehen. Dem gegenüber stehen jedoch nur Steuereinnahmen in der Höhe von 3,5 Milliarden. Mögliche Gegenmaßnahmen: Allgemeinmediziner könnten ihre Patienten routinemäßig zu Ihrem Alkoholkonsum befragen und ihnen Rückmeldungen dazu geben. Warnhinweise, höhere Preise durch Steuern, Werbebeschränkungen: Für Tabak hat all das bestens funktioniert. Aber um effektiv gegen das Alkoholproblem in Deutschland vorzugehen, müsste eine Lösung erwünscht sein. Möglicherweise ist das gar nicht der Fall, die Alkohollobby macht ihren Job. Allen voran der Deutsche Brauer-Bund, der sich alljährlich prominente Unterstützung holt. Horst Seehofer, Frank-Walter Steinmeier, Peter Altmaier, Cem Özdemir: Sie alle waren schon Botschafter des Bieres und haben mit ihrem Namen große Bierkonzerne unterstützt. Noch bis Mitte 2017 trägt den ehrenvollen Titel der Bundestagspräsident Norbert Lammert. Aus politischer Sicht ist das Amt ein Glücksgriff: Ein Bier in der Hand demonstriert Volksnähe. Und wer würde schon gern Wählerstimmen riskieren, indem er die Alkoholsteuer erhöht?

Hinweis: An den Zitaten von Anja Kräplin wurden am 10. Januar 2017 Veränderungen vorgenommen.

Text: Alisa Sonntag

Foto: Amac Garbe

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