Bücherwelten

Es ist schon wieder passiert. Lange bin ich standhaft geblieben, doch seine Gelüste kann man nicht ewig unterdrücken. Es ist schlecht für den Rücken, schlecht für meine Freizeit, aber es gibt mir das Gefühl, erfolgreich gejagt zu haben. Es ist 9 Uhr an einem Samstagmorgen und ich stehe mit einem Stapel Bücher in der SLUB. Bücher, von denen ich nach zweimal Fristverlängerung maximal ein halbes Buch gelesen haben werde. Aber warum gehe ich eigentlich hierher?

21 Jahre zurück

Das erste Mal in der Unibibliothek war ich in der elften Klasse. Im Rahmen eines Schulprojektes sollten wir lernen, wissenschaftlich zu arbeiten und zu schreiben. Die CD-Rom meines 30 Seiten starken Meisterwerkes über Dresdner Architekturgeschichte haben sich meine Eltern an die Wohnzimmerwand gepinnt und erzählen jedem, wie stolz sie auf mich sind. Auch wenn ich seitdem eine Ausbildung abgeschlossen habe und mehrere Jahre im Berufsleben stehe. Ich kann nicht mal die Einleitung meines sachlichen Ergusses lesen, ohne in Tränen der Scham auszubrechen. Und ich würde mir auf Amazon gut gemeinte 1,5 Sterne geben. Denn „wissenschaftlich“ waren weder Stil noch Arbeitsweise. Aber ich habe viel gelernt.

Damals war ich sehr stolz darauf, als kleine Schülerin die große, wichtige Bibliothek zu nutzen. Das Gebäude wirkte neumodisch und clean, das Innere luftig. Auch wenn ich mich ständig in den Gängen verirrt habe. Passiert mir auch heute.

Der emotionale Wert

Während meiner Ausbildung und Arbeitslosigkeit gab mir die SLUB das Gefühl, etwas dazuzulernen, auch wenn mein Leben scheinbar grade stillstand. Regelmäßig Bücher auszuleihen und zurückzubringen; auf den Sofas zu sitzen und in Bildbänden zu stöbern; auf der Suche nach einem bestimmten Werk auf Bücher zu stoßen, die älter als meine Großeltern sind, das gab mir Struktur.

Die riesigen Räume mit den Holzregalen, in denen das Grundrauschen nur von den Schritten der Nutzer:innen unterbrochen wird, wirken wie eine kuschlige Höhle, in der die Zeit stillsteht. Nur ich und das Wissen. Zugriff auf so viele Bücher zu haben und nichts bezahlen zu müssen, das weiß ich sehr zu schätzen. Dank Re-Commerce-Unternehmen wie Medimops oder Rebuy kann ich mir viele Werke auch für wenig Geld nach Hause liefern lassen und würde mir den beschwerlichen Weg zum Zelleschen Weg sparen. Aber danach würden sie wieder in einer Bücherzelle landen. Ich werfe mein Geld lieber bei der nächsten Kleinkunst in den Hut.

Geschichten, die ich verpasst habe

Mir ist bewusst, dass die SLUB für mich eher ein positiver Ort ist, weil ich dort nicht hinmuss. Ich muss keine Semesterarbeiten schreiben, obwohl draußen die Sonne scheint. Ich muss keine Angst haben, dass all die vielen Stunden umsonst waren. Ich muss keine Lerngruppen suchen oder mich mit dem W-Lan rumärgern. Denn ich bin nur Gästin. Ich bin kein Teil des SLUB-Kosmos.

Vieles entgeht mir einfach. Wer weiß, wie viele Paare sich hier gefunden haben? Weil sie nach demselben Buch gegriffen oder sich darum gestritten haben, wer es als erste:r vormerkt. Wie das Knistern zwischen Lampen begonnen, sich über ganze Abteilungen ausgebreitet hat, bis es in der Cafeteria bei einem Kaffee zu einem Feuer wurde. Wie viele Babys sind wohl daraus entstanden – und wie viele wurden in der SLUB gezeugt?

Auch die Lebensgeschichten, die hier ausgetauscht werden, obwohl man lieber schreiben sollte. All die Typen von Bibliotheks-Nutzer:innen, die ich nie beobachten kann, weil ich zu selten da bin. Gut Organisierte, die ihre Bücher akkurat auf dem Tisch ausgebreitet und ein ausgeklügeltes System aus Stiften und Post-it-Zettelchen haben, um das Wissen aufzubereiten. Menschen, die genervt auf Bildschirme starren und mit einem Podcast prokrastinieren. Oder Leute, die einfach schlafen. Weil sie eine Pause brauchen. Oder weil Schlafen umringt von den Werken alter Menschen beruhigend ist.

Recap mit Koffein

Und jetzt stehe ich hier. Seit 21 Jahren nutze ich die Bibliothek. Der Automaten-Kaffee schmeckt gleich eklig. Wahrscheinlich muss das so sein, denn dies ist kein Ort des Genusses, sondern der Qual. Wer sein Tagwerk beendet hat, darf sich einen besseren Kaffee in der Cafeteria gönnen. Die Nutzungsregeln wurden geändert und wieder zurück geändert; zwischenzeitlich durfte man sogar seine Taschen mit reinnehmen. Das geht aktuell nicht. Mittlerweile kann man sich ein Buch raussuchen und den Standort mittels QR-Code aufs Handy laden.

Irgendwie ist die Magie abhandengekommen. Meine Träume haben sich verändert. Ich bin immer noch erstaunt, wie viele Bücher in der Bibliothek schlummern, aber ich bin abgeklärter. Ich gehe hin und greife mir ein Buch. Aber vielleicht sollte ich mich mal wieder hinsetzen und einfach stöbern. Und dann auf einem Sofa einschlafen.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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