Es sind parallele Welten. Je nachdem, ob man die Filme des DOK Leipzig vor Ort schaut oder doch online, wo oftmals die Konzentration und im Besonderen die Austauschmöglichkeiten und Q&As vor Ort fehlen. Vor allem sind (Dokumentar-)Filme aber auch Schaufenster in die Welt, in andere Leben, parallele Realitäten. In Gegebenheiten, die wir uns mitunter gar nicht vorstellen können.
Flowers of Ukraine
Eine dieser Gegebenheiten ist im Dokumentarfilm „Flowers of Ukraine“ zu sehen. Und doch kommt einem die Situation irgendwie bekannt vor, denn Natalia hat sich mit ihren Pflanzen und Tieren ein kleines Paradies geschaffen. Allerdings liegt dieses Paradies nicht nur in einem Meer von Hochhäusern und ihr Refugium ist von der Gentrifizierung bedroht, sondern es bricht auch noch der Angriffskrieg Russlands aus. Das Werk von Adelina Borets lief im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm und war auch der Eröffnungsfilm des Festivals.
Where the Jasmine Always Blooms
Drastischer in der Darstellung und vor allem im Aufzeigen der Folgen von Krieg ist „Where the Jasmine Always Blooms“ von Husein Bastouni. Denn in dem zehnminütigen Animationsfilm stellt der Filmemacher die Frage, wie viel Alltag noch möglich ist, wenn ein Gebiet im Syrienkrieg zwischen die Fronten gerät wie hier im palästinensischen Flüchtlingsviertel Jarmuk in Süddamaskus.
Moria Six
Den Krieg an unseren Grenzen vermag Jennifer Mallmanns preisgekrönter Dokumentarfilm „Moria Six“ erschreckend realistisch darzustellen, ohne das Elend allzu direkt zu zeigen. Anhand der für den Brand im Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos verurteilten sechs Flüchtlinge zeichnet die Filmemacherin ein Bild von Europa, das der europäischen Idee diametral gegenübersteht. Ein Europa, das spätestens an seinen Außengrenzen Menschenrechte grundlegend missachtet. Das Menschen nicht mal einen ordentlichen Prozess ermöglicht. Das die Pressefreiheit mit Füßen tritt. Das lebensmüde macht. Dafür gab es den DEFA-Förderpreis sowie den Filmpreis Leipziger Ring.
Der König von Spanien
Fehlender Lebenswille kann dabei verschiedene Gründe haben. Das wird im kurzen Dokumentarfilm „Der König von Spanien“ von Leonard Volkmer besonders deutlich. Der Filmemacher erzählt dabei autobiografisch mit Voice-over und ruhigen Einstellungen von der Zeit, als er sich von seinem Elternhaus abnabelt und auf der Suche nach sich selbst ist. Dafür bekam Volkmer die Goldene Taube Kurzfilm im Deutschen Wettbewerb.
The Other One
Sehr persönliche Geschichten erzählen auch die Dokumentarfilme „The Other One“ und „Valentina and the MUOSters“. Bei ersterem dokumentiert Marie-Magdalena Kochová das Leben der Jugendlichen Johana, die mit ihrer autistischen Schwester und ihren Eltern in einer tschechischen Kleinstadt wohnt und auf dem Sprung zum Studium ist. Doch die nahende Freiheit bedeutet mehr Stress für die Eltern, denn Johana ist eine wichtige Stütze im Familiengefüge, was ihr schmerzlich bewusst ist. Dafür gab es den MDR-Filmpreis.
Valentina and the MUOSters
Um Abnabelung geht es auch in „Valentina and the MUOSters“. Valentina ist Mitte/Ende 20, als sie sich für einen Job bewirbt und von ihrem Vater verbessern lässt, wenn sie (wieder) Autofahren lernt. Sie leben im sizilianischen Niscemi, direkt neben dem Satellitenkommunikationssystem MUOS der US Navy, das das russische Militär in der Ukraine beobachtet und Niscemi somit auch zum Angriffsziel macht. Lossagung hat hier also verschiedene Ebenen. Francesca Scalisi bekam dafür den Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI-Preis).
Pelikan Blue
Generell waren beim diesjährigen Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm einige Werke im Programm, die Weltgeschichte mit dem persönlichen Leben verbinden. So bei „Pelikan Blue“, bei dem das Ende des Kalten Krieges und die neu gewonnene Reisefreiheit drei junge Männer dazu veranlasst, Fahrkarten für die Bahn zu fälschen. Das überzeugte die Jury des Internationalen Wettbewerbs Animationsfilm, László Csáki die Goldene Taube Langfilm zu verleihen.
La Jetée, the Fifth Shot & Among the Palms the Bomb, Or: Looking for Reflections in the Toxic Field of Plenty
„La Jetée, the Fifth Shot“, Gewinnerfilm der Goldenen Taube Langfilm im Internationalen Wettbewerb Dokumentarfilm, verbindet hingegen die Unabhängigkeit Algeriens mit dem Fotofilm „La Jetée“ von Chris Marker und der Familiengeschichte der Filmemacherin Dominique Cabrera.
Währenddessen sucht „Among the Palms the Bomb, Or: Looking for Reflections in the Toxic Field of Plenty“ von Lukas Marxt und Vanja Smiljanić Gebiete im Südwesten der USA auf, die mit dem Manhattan-Projekt Oppenheimers verbunden und Heimat verschiedener Ureinwohner:innen sind. Diese kämpfen nicht nur mit den Folgen der atomaren Kriegsführung, sondern auch mit anderen Ausbeutereien der Invasor:innen.
The Garden Cadences
Wer lieber vor der eigenen Haustür kehrt, sollte auf Festivals, in Kinos oder bei geeigneten Streamingdiensten hingegen nach „The Garden Cadences“ Ausschau halten. Dane Komljen kreiert mit dem einstündigen Werk, einem Porträt eines Berliner Wagenplatzes am Knotenpunkt Ostkreuz, einen Gegensatz zum schnelllebigen Berlin, das dem reizüberfluteten Filmkonsument oder auch der Konsumentin Geduld abfordert und alsbald ins Künstlerische abdriftet. Kontemplation, die im dunklen Rückzugsort Kino besser funktioniert als auf dem kleinen Laptop, der sich verführerisch nahe an Kühlschrank und Badezimmer befindet.
Wer derzeit in Dresden Filme mit ähnlicher Auslegung und Gesprächseinbettung sehen will, der ist bis zum 13. November noch beim MOVE IT! richtig. Fürs DOK Leipzig müssen wir nun wieder bis nächstes Jahr warten.
Text: Nadine Faust
Zum Titelfoto: DOK Leipzig 2024/Flowers of Ukraine: Gogol Film, Koskino, Gogol Vertigo, Telewizja Polska S.A., DI Factory