Fünf Kilometer Leiden

Donnerstag, 19.10 Uhr. Frustriert versuche ich, mit Sicherheitsnadeln meine Startnummer an meinem Top zu befestigen. Während mein Laufpartner auf dem Sofa sitzt und Social Media mit einem Status-Update versorgt, richte ich meine Haare, prüfe die Schnürsenkel meiner Schuhe und packe ein Brötchen in meine Gürteltasche. Schon Tage vorher hat es die Presse verkündet: Der Stadium Run findet statt, der Lauf vom Rudolf-Harbig-Stadion zum neu gebauten Heinz-Steyer-Stadion. Zur Einweihung der 10.400 Sitzplätze umfassenden Arena sind fünf Kilometer zu bewältigen. Und mittendrin ich.

Wehe, wenn sie losgelaufen!

Seit vier Monaten laufe ich zweimal pro Woche, allein oder zweisam, zuletzt sind wir dreimal pro Woche gelaufen. Anfangs bin ich ihm japsend hinterhergehetzt, hatte Probleme, mein Tempo zu finden, bin immer zu schnell losgelaufen. Mit der Zeit bin ich besser geworden, kann gut einschätzen, welche Geschwindigkeit sich gut anfühlt. Beim Joggen reden kann ich immer noch nicht. Meine Pace, also die Zeit pro Kilometer, konnte ich von acht auf sechs Minuten steigern. Allerdings lege ich immer eine kleine Pause ein. Werde ich die fünf Kilometer am Stück einfach so schaffen?

Schon auf dem Weg zum Harbig-Stadion sind die Straßen gesäumt von Menschen, die mitmachen. Ich dachte, dass sich die 5.000 möglichen Läufer:innen gut verteilen, aber überall sehen wir Leute mit einer Startnummer. Wäre eine gute Gelegenheit, um Smalltalk zu üben, denn das Thema ist klar. Interessiert bewundere ich Menschen, die in unterschiedlichen Firmen-Shirts den Vorplatz bevölkern. Dagegen sind wir dezent: Ich trage mein orangenes Lieblings-Top und eine schwarze Shorts, die an einen Heizluftballon erinnert. Er hat mir zuliebe auf Neon-Orange verzichtet und sich in ein ausgewaschenes Shirt und eine körperbetonte Hose geworfen. Mit dem Gurt um den Oberkörper und seiner Laufuhr sieht er professioneller aus als ich, aber wenn man neun Jahre joggt, hat man andere Ansprüche.

Eine Wiese im Blick

Dann bewegen wir uns zum Startfeld. Damit der Rasen nicht von uns zertrampelt wird, sondern von den Fußballspielern am nächsten Tag, quetschen sich alle auf einen drei Meter breiten Streifen am Rand. Aus den Lautsprechern dringt Aprés-Ski-Musik, die motivieren soll, mich aber stresst. Meine Angst vor unbekannten Situationen dringt durch meinen Körper und lässt meine Hände schwitzig werden. Um mich abzulenken, verwickle ich meinen Laufpartner in ein Gespräch über das Tagesgeschehen in Dresden.

Dann betreten Leichtathletin Heike Drechsler und unser Oberbürgermeister (OB) Dirk Hilbert die Bühne. Ich frage mich, ob unser OB seine Startnummer unter seinem Hemd versteckt. Je weniger Minuten es bis zum Start sind, desto langsamer vergehen sie. Meine Angststörung kann sich nicht entscheiden, ob ich umkippen oder mich auf den unbefleckten Rasen übergeben soll. Ich entscheide mich dafür, mir noch einmal die Vitamalz-Werbung von Heike Drechsler aus dem Jahre 1994 in Erinnerung zu rufen. Wer konnte bei diesem strahlenden Lächeln auf dem Sofa liegen?

Mein Laufpartner postet stolz das nächste Update, im Gegensatz zu manch anderen wird er sich beim Lauf auf seine Füße konzentrieren, weniger auf sein wunderschönes Antlitz in einer Handykamera. Nachdem auch unser OB seine Verpflichtung erfüllt hat, setzt sich die Masse in Bewegung.

Ein Kilometer ist mehr als ein Kilometer

Die ersten Meter gelingen mir gut. Ich genieße das Gefühl meiner Schuhe, die auf dem Asphalt der Lennéstraße sanft federn. Autofahrer:innen zuckeln gemütlich an uns vorbei. Endlich habe ich als Fußgängerin Vorfahrt. Ich merke, dass ich zu schnell losgerannt bin, versuche, mein Tempo zu reduzieren. Das klappt aber nur mäßig. Während wir die Helmut-Schön-Allee langlaufen und an der Lingnerallee eine Runde drehen, beobachte ich, wie dieser Lauf unterschiedliche Menschen vereint: alte und junge, dicke und dünne, erfahrene und kaum erfahrene. Manche tragen Kopfhörer, sind ganz in ihrer Welt. Andere sind, wie ich, ohne unterwegs. Aber auch bei uns wird das Rauschen der Umgebung irgendwann verklingen. Irgendwann werden wir ganz allein mit uns und den Schritten sein. Meinen Partner habe ich nach wenigen Minuten aus den Augen verloren. Wir hatten vereinbart, dass wir nicht im Team kämpfen, sondern jeder für sich.

Als wir die Grunaer Straße passiert haben und in die Rietschelstraße einbiegen, werde ich unruhig. Wähle ich die viel bevölkerte Fahrbahn oder weiche ich auf die unebenen Granitplatten auf dem Fußweg aus? Ich entscheide mich für den Gehweg und kämpfe mich durch. Langsam zollt das Tempo meinem Körper Tribut ab, aber ich bleibe dran. An der Kreuzung zur Dürerstraße singt ein Mädchen am Straßenrand „Alle meine Entchen“ und ich muss lachen. Nicht ganz so passend wie „We are the champions“, aber motivierend. Ohnehin freut mich, dass solche Läufe Menschen zusammenbringen, auch die, die am Straßenrand stehen. Obwohl man sich noch nie wahrgenommen hat, sitzt man beieinander und feuert andere an.

Nicht ganz dabei bei Kilometer zweieinhalb

An der Carolabrücke spüre ich die Anstrengung deutlich. Die Sonne brennt, und obwohl ich mir einen Becher Wasser hole, bin ich mir nicht sicher, ob ich das schaffe. Ich denke an unsere ersten Läufe zurück. Er hatte mir mehrmals angeboten, dass er mich begleitet, aber die ersten Male bin ich allein gelaufen. Ich schämte mich, langsamer als eine Fußgängerin zu sein, und ich wollte ihn, für den eine Pace von 5,5 Minuten ein Spaziergang ist, nicht enttäuschen.

Irgendwann wurden unsere Läufe zu einem festen Ritual. Ich erinnere mich gut an die Gespräche über Flirts auf Weihnachtsfeiern, großzügige Chefs und partnerschaftliche Probleme. Mehrmals haben wir uns über unsere Leben ausgetauscht. Er: sportlich, attraktiv, niemals in Neon-Orange, wenn er mit mir läuft. Ich: immer bunt, verspielt, mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen, egal, wie erschöpft ich war. Anfangs drehte er sich häufig um, wollte sicherstellen, dass ich noch mithalten konnte, passte sein Tempo an. Später habe ich manchmal ihn überholt, beobachtete, ob unsere Schatten nah genug beieinander waren, achtete darauf, dass er nicht verloren ging. Zwei Menschen, die unterschiedlich laufen, aber irgendwie eine Einheit ergeben. Der Plot einer RomCom auf zwei Quadratmetern.

Plakatiererei an Kilometer dreieinhalb

Als wir am Landtag in die Devrientstraße einbiegen, wird mir bewusst, wie weit es noch ist. Um mich abzulenken, analysiere ich die Wahlplakate am Straßenrand. Seit Mai ist die Stadt infolge der vier Wahlen, verteilt auf zwei Termine, mit Bildern schöner Menschen zugekleistert, über die man nur wenig weiß. Ich sehe die ästhetisch aufbereiteten Motive und versuche, die steifen Auftritte in Funk und Fernsehen damit in Einklang zu bringen. Zu viele Menschen wollen mir ihre Meinung verkaufen, zu viele Plakate versperren den Blick auf das Wesentliche. So sehr ich Wahlen schätze: Auf die Deko könnte ich verzichten.

Neben mir läuft ein Mann mit Basecap und faltiger Haut. Ich schätze ihn auf Mitte 60, trotzdem hält er tapfer mein Tempo. Ich frage mich, wie diszipliniert man sein muss, um auch in diesem Alter noch so weit zu kommen. Welches Leben werde ich mit Mitte 60 führen? Werde ich in meinem Sessel sitzen und Wolken betrachten, während meine Nichte Essen für mich kocht? Oder werden mein Laufpartner und ich weiterhin zweimal wöchentlich den Elberadeweg unsicher machen, mit unseren Rollatoren an Kinderwagen vorbeicruisen und über saufende Teenager am Rand meckern, weil wir es können? Ich hoffe, dass bis dahin viele richtige Dinge passieren und ich noch fit bin.

Fast vorbei bei Kilometer viereinhalb

Als ich die Marienbrücke passiere, will ich aufgeben. Obwohl ich bis dahin so tapfer war, nervt mich die Aussicht, dass ich noch unter der Brücke durch und ins Stadion laufen muss. Offensichtlich bin ich ein Mensch, der Enden nicht genießen kann, sondern abkürzt. Deswegen lese ich bei Büchern meistens nach dem zweiten Drittel direkt das Ende. Ich bin erschöpft und vertraue auf meine Füße, die mich Schritt für Schritt weitertragen. Die Trommler, die sonst an der Rietschelstraße stehen, haben sich unter der Marienbrücke platziert, was ihren Schall verstärkt. Ich wollte in Ruhe vor mich hin grummeln, das geht leider nicht.

„Mach mir den Schmetterling!“, erinnere ich mich an die Worte meines Laufpartners. Damit meint er im Training, dass wir, von der Waldschlösschenbrücke kommend, an der Albertbrücke nicht die Treppe nach oben nehmen, sondern einen Umweg laufen und uns die Auffahrt für Autos und Radfahrende hochkämpfen. Ihn erinnert das an einen Schmetterling. Ich lächle. Mir wird bewusst, wie viel ich bisher geschafft habe. Die letzte Motivation vor dem Ziel, das noch so fern wirkt. Ich konzentriere mich auf den Duft seines Sensitiv-Weichspülers, der mich bei unseren Übungsläufen begleitet. Ich denke an meinen Freund, der mir über den Kopf streichelt und mir eine Tasse Kaffee hinstellt. Ich denke an all die Liebe, die man für einen Menschen empfinden kann. Die Liebe, immer wieder die Liebe. Der Glaube, die Hoffnung.

Zieleinlauf

Dann das rote Leuchten des Stadions. Die Tribünen, an denen ich vorbeilaufe. Manche Leute würden jetzt alles geben, ich genieße das Gefühl unberührter Tartanbahn unter meinen Schuhen und die kühle Abendluft. Die Weite des Stadions. Wie in einer Kirche. Ich lasse mich die letzten Meter von meinem Rhythmus tragen, schwebe ins Ziel. Hole mir von den Cheerleadern die Teilnehmer-Medaille. Suche mir einen Platz am Rand, halte Ausschau. Versuche, den Lärm und die Menschen auszublenden. Als mich mein Laufpartner in seinem ausgewaschenen Shirt endlich erblickt, bin ich erleichtert. Falle ihm um den Hals, bin ausgepowert und high, versuche, das einzusortieren. Bleibe an ihm, bis sich mein Herzschlag beruhigt und mein Körper einen Rhythmus gefunden hat. Wir haben es geschafft. Wir sind Gewinner.

Am Ende bin ich knapp über 29 Minuten gelaufen, mit einer Pace von 5:46 Minuten pro Kilometer. Die unbekannte Strecke hat es leichter gemacht, die vielen Menschen, die mich begleitet haben. Das Gefühl der Gemeinschaft. Im Oktober werde ich mit meinem Freund zusammen einen Viertel-Marathon laufen. Ich bin gespannt, wie das wird.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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