Der Teddy in mir

Es funktioniert einfach nicht. Es ist Pfingstmontag, das Frühstück steht auf dem Tisch, der Ausflugs-Rucksack ist gepackt, Pflaster sind abgezählt, der Zug herausgesucht. Ich bin startklar, wollte das Deutschlandticket nutzen und mit einem Freund Sachsen erkunden. Aber mein Kopf macht nicht mit. Schon seit Sonntagmittag nervt er mich mit Kopfschmerzen und leichter Übelkeit, eine Folge von zu vielen guten Nächten mit zu wenig Schlaf. Unangenehm, aber nicht bedrohlich. Aber kein guter Partner für eine Fahrt von zwei Stunden in einem überfüllten Zug. Und für mich bricht eine kleine Welt zusammen. Mal wieder gescheitert an mir selbst.

Mecker-Ich

Während ich noch völlig planlos bin, weil mein Plan für diesen Tag verpufft ist wie hellblaue Zuckerwatte, betritt der erste Gast meinen imaginären Ring. Es ist ein muskelbepacktes Wesen mit glattrasiertem Gesicht und einer zu kleinen Boxerhose. „Du Mimose! Du Nichtsnutz! Nimm eine Schmerzpille und gut ist! Andere hätten in diesem Zustand schon den Feldberg bestiegen!“, schreit es mich an, während die Ausrufezeichen um ihn herumfliegen. Ich würde ihm gerne sagen, dass ich in meinem Leben noch nie Schmerzmittel genommen habe und nicht weiß, ob Aspirin meinen Kopf beruhigt oder mich grün leuchten lässt. Aber gegen die Macht seiner Worte komme ich schwer an.

Tugend-Ich

Dann steigt das zweite Wesen durch die Seile. Unheilvoll und schneidend ist sein Gang, schrill und scharf seine Stimme. Sein Körper gleicht einer Sanduhr im kubistischen Gewand, sein Anzug sitzt eng, mit den Kanten der Fliege könnte man eine matschige Tomate in hauchdünne Scheiben verwandeln. Erhobenen Zeigefingers erklärt er mir die Vorteile sportlicher Betätigung von nicht unter 20 Kilometern. Die positiven Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System, die Kondition, die Regulierung der Körpertemperatur und die Fettpolster. Und überhaupt helfe Sport gegen Kopfschmerzen, Periodenschmerzen, andere Schmerzen und gegen Herzschmerz. Letztes hatte ich ausprobiert und es hatte nicht gewirkt, aber was sollte ich gegen wissenschaftlich fundierte Behauptungen schon sagen?

Gesellschafts-Ich

Mein nächster Gast trägt einen DDR-Kittel mit Blümchenmuster und hat die kirschroten Haare akkurat zu Locken frisiert. Mit brüchiger Stimme und strengem Blick belehrt mich die Figur, dass man Verabredungen einhalten solle, damit man die andere Person nicht enttäusche. „Schließlich hat er sich darauf gefreut und ist extra früh aufgestanden!“, schimpft sie. Ich habe mich auch darauf gefreut und natürlich bin ich enttäuscht. Aber wäre ich eine gute Wanderpartnerin, wenn ich vor mich hin leide?

Wohlfühl-Ich

Meine Rettung kommt in Form einer Person im rosa Jogginganzug im Stile der 2000er, riesigem Goldkettchen um den Hals und Kaugummi im Mund. „Komm ma wieder runter, Alte! Heute ist doch eh alles im Flow. Kommst du heute nicht, kommst du eben morgen“, nölt sie. Dass morgen Dienstag ist und der arbeitende Teil der Bevölkerung an jenem pflichtgemäß seiner bezahlten Tätigkeit nachgehen muss, damit am Ende des Monats auch eine kleine Portion schicke Nudeln für großes Geld drin ist, möchte ich einwenden, tue es aber nicht. Bringt ohnehin nichts. Weder mein fiktives noch mein reales 15-jähriges Ich dachten länger als bis zur nächsten Klassenarbeit in einer Woche. Mein erwachsenes Ich denkt manchmal immer noch so.

Ningel-Ich

Schließlich die letzte Figur in meinem Kampf der Meinungen: ein riesiger Teddybär in bayrischer Tracht mit Picknickkorb, der eine Kaffeetasse auf dem Kopf balanciert. Aus seinen dunklen Kulleraugen guckt er mich traurig an: „Das geht schon seit gestern Mittag so, und nichts hilft. Ich will jetzt einfach auf einer Wiese sitzen und weinen, bis es vorbei ist.“ Warum das Kuscheltier die Kleidung des Dialekte-Feindes trägt und trotzdem Hochdeutsch redet, weiß ich nicht. Aber wenn mein Kopf weh tut, bringt er wohl Dinge durcheinander.

Hauen, Stechen, Fetzen

Und so streiten sich in meinem Kopf verschiedene Meinungen und alle haben irgendwie recht. Natürlich könnte ich mich zusammenreißen und mich quälen. Vielleicht ginge es mir im Laufe des Tages besser. Vielleicht würde ich aber auch den schönen Teil verpassen, weil es nicht geht. Und klar, ich könnte jemanden enttäuschen. Aber kann man denn immer perfekt sein? Wo Menschen aufeinanderprallen, kann man nicht immer gewinnen. Sich mal eine Pause zu gönnen ist gut, auch wenn man das nicht als Ausrede benutzen sollte, um gar nichts mehr zu tun. Aber immer leisten zu müssen, das lässt einen die eigenen Grenzen vergessen. Das ist nicht gut. Man darf dem Teddy in sich mal Raum geben.

Das Ende der Niederlage

Während ich also mürrisch meinen Proviant in den Kühlschrank räume, die Pflaster wieder in den Medizinschrank packe und den Rucksack in die Ecke stelle, erreicht mich eine Nachricht meiner Begleitung: „Schade, dass es dir nicht gut geht. Wollen wir in einer Stunde etwas frühstücken gehen?“ Und plötzlich werden all die Gedanken in meinem Kopf durch ein Wort ersetzt: Dankbarkeit. Ich darf mal hinfallen. Aber glücklicherweise tut sich dann kein Abgrund auf, sondern jemand reicht mir die Hand.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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