„Ich glaube, ich muss akzeptieren, dass mein Leben nicht sehr aufregend sein wird.“ Das ist die Ehrlichkeit, die Charlie von seinen Student:innen in ihren Essays erwartet. Dabei ist er selbst nicht ganz ehrlich – seine Webcam bleibt aus. Wäre sie an, würden die Student:innen sehen, wie fett Charlie ist. Seit Ewigkeiten hat er seine Wohnung nicht verlassen, selbst der Pizzabote kennt ihn nicht von Angesicht zu Angesicht. Doch als sein Herz Kapriolen schlägt, ändert er seine Meinung.
Auf Leben und Tod
Charlie bittet seine Tochter zu sich, die er ewig nicht gesehen hat. Vor Jahren hat er sie und ihre Mutter verlassen, um mit einem Mann zusammenzuleben. Nach dessen Tod hat er sich zurückgezogen und den Frust zusammen mit Fast Food heruntergeschluckt. Ellie ist dementsprechend sauer, ja sie verachtet ihn. Daher sind Charlies gute Freundin Liz und Ellies Mutter Mary wenig begeistert von den Treffen der beiden, ist Charlies Herz doch nur eine Aufregung von der völligen Aufgabe entfernt. Aber Charlie ist überzeugt, Ellies Panzer durchbrechen zu können – und wenn es ihn das Leben kostet.
Darren Aronofsky hat mit „The Whale“ ein Kammerstück erschaffen, das direkt ans Herz geht – nicht nur an Charlies. Als Vorlage diente das gleichnamige Theaterstück von Samuel D. Hunter, der damit ein Stück weit sein eigenes Leben verarbeitet hat. Um „The Whale“ für die Leinwand adaptieren zu können, studierte Hunter extra filmisches Erzählen – mit Erfolg. Hunter gelingt es, auf kleinem Raum und mit wenigen Figuren die Tiefen menschlicher Emotionen zu ergründen – und wie sie unser Zusammenleben mit anderen beeinflussen. Wut, Mitgefühl, Liebe – all das prägt uns und wirkt sich auf den Umgang miteinander aus. Welchem Gefühl wir dabei nachgehen, das ist ganz uns überlassen.
Starke Frauen neben einem starken Mann
Zwei Oscars konnte „The Whale“ bei der diesjährigen Verleihung abräumen – für Hair & Make-up sowie Brendan Frasers Schauspielleistung. Beides hochverdient, doch auch Sadie Sink, Hong Chau und Samantha Morton geben den Frauen rund um Charlie ein authentisches Gesicht. Zwei Stunden im Kinosessel, die sich lohnen!
Text: Nadine Faust
Zum Foto: Brendan Fraser in „The Whale“ © Courtesy of A24