Zurück in die Schule

Wenn ich gestresst und unsicher bin, dann träume ich mich in die urigen Flure meines ehemaligen Gymnasiums, höre das Quietschen auf dem PVC-Boden und rieche die stickige Luft im Speiseraum. Zu einer Zeit, in der das Leben nur aus Lernen, Klassenarbeiten und daraus bestand, sich auf den nächsten Tag zu freuen. In der es rückblickend darum ging, Leistung zu bringen und so viele Infos wie möglich in mich hineinzusaugen. Manchmal sehne ich mich nach der Berechenbarkeit, Geborgenheit. Daher reizte es mich, als Erwachsene an diesen Ort zurückzukehren.

Von außen betrachtet

Als erstes fällt mir auf, dass sich das Viertel verändert hat. Früher gab’s einige Villen, nur einen Bäcker und ein paar Brachen. Heute ist alles saniert, frisch gestrichen in Rostbraun und Eierschale. Dort, wo früher Gebäude vor sich hin siechten, stehen jetzt weiße Klötzchen mit grauen Balkons, als hätte man sie mit Copy & Paste eingefügt. Einen Supermarkt gibt es. Und eine Drogerie. Alles wirkt geordneter, aber auch trister. Zu viele Ecken und Kanten, zu wenig Grün. Aber schön sieht’s irgendwie aus.

Die Schule selbst ist immer noch imposant. Früher habe ich das nie so wahrgenommen, weil ich zu sehr mit Lernen beschäftigt war. Heute habe ich mich intensiver mit Architektur auseinandergesetzt und weiß die simple, monumentale Gestaltung zu schätzen. Ich kenne die Geschichte und die Geheimnisse dahinter.

Umso schockierter bin ich vom Inneren. Statt Gemütlichkeit herrscht cleanes Weiß. Die denkmalgeschützte Bemalung ist geblieben, der Grundton aber heller. Tische und Stühle in den Unterrichtszimmern sind ebenfalls in Weiß gestaltet. Selbst die riesigen Holztische auf den Fluren, die immer etwas zu hoch für mich waren, sind verschwunden. Die Sanierung des Gebäudes hat mehrere Millionen Euro gekostet. Wahrscheinlich stand im Kleingedruckten, dass alles hell, aber nicht freundlich sein muss. In solchen Momenten frage ich mich, ob Lernen in einer ästhetischen Umgebung mehr Spaß macht als in einem Palast, in dem einem die Kälte um die Ohren weht, im übertragenen Sinne.

Doch nicht alles schlecht

Am deutlichsten sehe ich jedoch, dass die Mauer weg ist. Vielleicht hat sich meine Wahrnehmung verändert. Aber früher wirkte das Gebäude wie umgeben von einem Schutzwall, jetzt ist ein Teil nicht mehr da. Alles ist frei, ich kann den Blick auf die Wohngebäude in der Nähe werfen. Die Schule wirkt nicht mehr wie eine Insel, sondern wie ein Teil der Umgebung. In diesem Moment scheint es mir, dass auch der Schutz um meine Erinnerungen aufgelöst ist.

Allerdings hat sich die technische Ausstattung verbessert. Während meine Lehrer:innen noch live auf die Folie auf dem Polylux geschrieben und wir alte Filme auf Video gesehen haben, hängen heute elektronische Tafeln in den Zimmern. Für mehr Musikinstrumente war auch Geld da. Aber die Wandzeitungen sind geblieben. Manchmal braucht man statt Maus und Tablett doch Schere und Leimstift.

Und das Ganztags-Angebot ist vielfältiger geworden. Als ich die Schule verließ, steckten viele Arbeitsgemeinschaften noch in den Kinderschuhen, heute gibt es zahlreiche Kurse und sogar einen Handarbeitszirkel. Ich finde es gut, dass es mehr Möglichkeiten gibt, ohne Leistungsdruck die eigenen Fähigkeiten zu entdecken.

Seid Ihr noch da?

Der wichtigste Faktor sind die Menschen, die mich durch den Alltag begleitet haben – meine Lehrer:innen. Ich hatte im Vorfeld ein freudiges Wiedersehen erwartet. Doch dann wurde mir klar, dass in fast zwei Jahrzehnten eine Menge passieren kann. Viele waren gefühlt in den Vierzigern, daher rechnete ich damit, dass einige bereits in Rente waren. Letztlich waren paradoxerweise die Pädagog:innen da, die mich nur kurz unterrichteten und sich kaum an mich erinnern konnten.

Später habe ich mal einige meiner Favorit:innen gegoogelt. Herr K., der mir die ersten Schritte mit dem Computer beibrachte und mich durch die Encarta lotste, ist seit Jahren an der Uni. Wahrscheinlich zeigt er Studierenden, wie man mit LaTeX arbeitet oder mit Google Maps bunte Männchen malt, während man durch die Stadt geht.

Herr R., der mir in Vertretungsstunden mit seiner prägnanten Stimme aufgefallen war, hat Schule und Stadt gewechselt, ist aber den architektonisch bedeutsamen Gebäuden treu geblieben. Auf dem Gruppenfoto seiner neuen Heimat erkennt man ihn deutlich am Lächeln. Herrn R. habe ich ironischerweise mal auf dem Weg zu einem Date getroffen und die kurze Plauderei hat meine Nervosität verringert.

Nur Frau H. hat es nicht geschafft. Sie bezog, wie man in Dresden sagt, eine Einzimmerwohnung in Tolkewitz. Paradoxerweise wohnte sie wirklich dort. Von Frau H. habe ich die Leidenschaft für Naturwissenschaften. Sie ist dafür verantwortlich, dass ich selbst nachts um drei die Atomspaltung beschreiben könnte. Dass ich im Alltag oft versuche, Dinge mittels Physik zu erklären. Und ganz allgemeine Dinge: Bei Problemen zuerst zu betrachten, was man hat, und dann zu gucken, wie man damit zum Ziel kommt. Und dass man nicht nur Brüche kürzen kann, sondern auch Aufgaben und Texte. Man streicht einfach solange das Unnötige weg, bis das Wesentliche übrig bleibt.

Veränderung vs. Fortschritt

Als ich nach Hause komme, möchte ich weinen und schreien. Ich stehe neben mir. Irgendwie hatte ich gehofft, die Zeit würde stehen bleiben. Dass ich, wie in einem 3D-Modell, die Vergangenheit von allen Seiten betrachten, neu bewerten und damit umgehen kann. Dass ich Gespräche führe, neue Ansichten gewinne. Aber es ist keine:r da. Ich hatte gehofft, ein Teil dieses Gebäudes sein zu können, aber ich gehöre nicht mehr hierher.

Seit ich gegangen bin, haben tausende Jugendliche die Schule besucht und mit einem Abschluss verlassen. Ich bin nichts Besonderes. Lehrer:innen sind Dienstleister:innen, wir waren ihre Klient:innen. Wir verbrachten den Alltag miteinander und versuchten, miteinander klarzukommen.

Als ich an diese Schule kam, wollte ich erwachsen werden. Ich wollte lernen und mich entwickeln. Und am Ende der zwölften Klasse dachte ich, dass ich wichtig genug bin. Ich war so stolz. Ich wusste, dass mein Weg noch weitergehen würde. Aber ich war so glücklich, das Abi geschafft, es mir und meinen Lehrer:innen bewiesen zu haben. Dann kam meine Ausbildung.

Nachhall

Aus dem sicheren Gefüge des Frontalunterrichts hinein in den Arbeitsalltag, das war hart. Plötzlich kam es nicht mehr auf Noten an, sondern darum, mit anderen zusammenzuarbeiten. Ich war nicht mehr der Mittelpunkt meines Lernens. Ich war ein Rädchen im Gefüge und musste erst herausfinden, wie ich gut funktioniere. Ich musste auch menschlich reifen und bin, aus diesem Blickwinkel betrachtet, froh, dass ich das sichere Nest des Gymnasiums verlassen musste. Hinaus in die Welt, die anderen Stadtteile erkunden, sich selbst kennenlernen.

Ich habe so viel erlebt, mich so oft überwunden. Und so viele Dinge besser gemacht als damals. Trotzdem fällt es mir schwer loszulassen. Ein Teil von mir steht wohl noch immer am Fenster und fragt sich, wie die Welt hinter der Mauer aussieht.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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