Dienstagabend vor einer Woche. Die Luft ist warm und in der Neustadt glitzern die Leuchtreklamen der Bars. Die erste Lockerung der Corona-Maßnahmen entfaltet ihre Wirkung. Kunst und Theater sind wieder möglich, mit offiziellem Negativ-Test, Impf- oder Genesungsnachweis. Und ich betreue gemeinsam mit anderen die erste Kleinkunstbühne, die wir seit acht Monaten veranstalten dürfen.
Als ich diesen Abend beginne, bin ich gestresst. Arbeiten, nach Hause kommen, essen, dann zum Testzentrum und pünktlich hinkommen. Die Nachweise aller Besucher kontrollieren, Kontaktdaten erfassen und das zusätzlich zum Chaos, das man als Teil des Organisationsteams bewältigen muss. Ich brauche einige Zeit, bis ich in den Zuschauermodus falle und es genießen kann. Aber das Feedback, das wir von den Künstlern und Besuchern bekommen, ist überwältigend. Die Freude, dass man sich wieder treffen und austauschen kann. Dass man beruhigt Kunst lauschen und plaudern kann. Es kommt mir vor, als wären die Menschen ausgetrocknet. Von der Unsicherheit, von der fehlenden Kommunikation und Ablenkung vom Alltag. Endlich wieder das Gefühl, dass sie etwas zurückbekommen. Dass sich jemand bemüht, ihnen etwas Gutes zu tun. Die Energie zwischen Menschen zu spüren, die keine noch so gut gefilmte Aufzeichnung leisten kann.
Ich höre zu und suche in mir ein Gefühl. Und finde nichts. Noch wirkt alles nicht real. Zu schön, um wahr zu sein. Nicht greifbar. Und noch haben viele Bars und Restaurants geschlossen. Aber als ich in dieser Nacht nach Hause gehe, die Königsbrücker Straße entlang, über den Albertplatz an den Nachtschwärmern vorbei, während die Brunnen plätschern, als hätten sie nie etwas anderes getan, da wird mir bewusst, was sich verändert hat: Es gibt ein „morgen“: Morgen Abend kann ich rausgehen und einen Cocktail trinken, übermorgen kann ich wieder ins Theater und überübermorgen kann ich abends durch die Stadt spazieren und all die Menschen hören, die sich nachts draußen tummeln, bis die Sonne aufgeht. Kein Nachdenken mehr, welche Regeln wann aktiv sind. Keine Unsicherheit, ob ich gerade etwas falsch mache. Kein Planen, kein Suchen. Freiheit.
Ein paar Tage später bin ich in der Innenstadt, um einzukaufen. Die Maßnahmen wurden zum zweiten Mal gelockert, die Testpflicht entfällt überwiegend, Museen können ohne Termin besucht werden. Und alle Läden stehen mir offen. Aber statt dem Gefühl der Erlösung baut sich Misstrauen auf: Funktioniert das so einfach? Wie verhalten sich Menschen, wenn sie sich völlig frei bewegen können? Fragt man die Massen, die aus dem nördlichen Ende der Prager Straße Richtung Altmarkt-Galerie drängen, dann ist die Antwort klar: Natürlich klappt das. Und irgendwie stimmt das. Beim Schlangestehen vor den Läden halten alle die Mindestabstände ein, mittlerweile ist es Routine geworden. Auch das Herumwuseln um die anderen Besucher stresst mich weniger, ich habe mich einfach daran gewöhnt. Aber ich spüre, dass ich nur das Nötigste erledige. Dass ich lieber einen Umweg in Kauf nehme, als mit all den Leuten in Kontakt zu kommen. In manchen Momenten vergesse ich fast, dass wir noch immer in einer Pandemie leben, und dann muss ich mich daran erinnern. Laut ZEIT gab es an diesem Tag elf Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Landkreis Dresden. So viele passen in einen Schuhladen, wenn die Abstände eingehalten werden. Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl wären das also 5,5 Schuhläden an gemeldeten Infizierten. Das wirkt so gering, dass es nicht greifbar ist.
Alles ging so schnell. Von Maskenpflicht zum Bundes-Shutdown zu Freiheiten, die mich überrollen. Ich fühle mich wie eine Katze, deren Wohnung renoviert wurde, und die nun in ihrer Transportbox sitzt und noch nicht weiß, ob sie rausgehen darf. Obwohl die Tür weit offensteht.
Text: Vivian Herzog
Foto: Amac Garbe