Campuskolumne

Das waren vermutlich die letzten wirklich warmen Tage des Jahres 2019. So langsam verfliegt die übrig gebliebene Erholung und Glückseligkeit der Sommertage, die Temperaturen werden rauer, die Nächte länger. Da würde ein Urlaub nicht schaden, oder? Wie wäre es mit der Türkei? Luxuriöse Hotelanlagen, Schnäppchenpreise, vermutlich inzwischen wesentlich leerere Strände, das warme Meer und auch im Oktober herrschen noch durchschnittlich 26°C vor. Und wisst Ihr, was auch in der Türkei herrscht? Präsident Recep Tayyip Erdoğan. In der Türkei läuft grade einiges nicht mehr richtig – kritische JournalistInnen laufen nicht mehr frei herum, die Menschenrechte laufen gegen die Wand und die KurdInnen laufen ins offene Messer. Im Folgenden lest Ihr fünf Gründe, warum die Türkei kein geeignetes Reiseziel für humanistische und dem Frieden zugewandte BürgerInnen sein kann.

  1. Das Leid der Frauen. Erdoğan selbst vertritt die Meinung, dass Frauen nur halbe Frauen sind, wenn sie wegen ihres Wunsches zu arbeiten keine Kinder bekommen. Diese Ansicht drängt Frauen in das Bild einer Gebärmaschine. Doch die Denunzierung der Frau hat noch mehr Facetten. Hodschas, Fernsehprediger, erläutern für Männer bestimmte Regelungen im Umgang mit ihrer Partnerin bzw. Gattin: „Unsere Religion erlaubt dem Mann das Schlagen nicht, damit er seine Frau misshandelt, sondern um Dampf abzulassen. Denn wenn ihm die Geduld reißt, fängt er an, selbst in Strommasten eine zweite Frau zu sehen. Die Frau sollte dankbar sein, wenn ihr Mann sie schlägt.“ Obwohl diese Regeln bereits grausam wirken, halten sich viele Männer nicht daran. 2018 wurden mindestens 440 Frauen durch die Misshandlung von Männern getötet, vermutlich auch mehr. 2017 wurden 332 Frauen Opfer sexueller Gewalt. Frauenrechtsorganisationen protestieren gegen Frauenmorde. Sie haben das Gefühl, von Politik und Justiz allein gelassen zu werden. Gesetzliche Regelungen, um die Frauen zu schützen, finden kaum Anwendung, da patriarchale Machtstrukturen zu tief in der Gesellschaft verankert sind.
  2. Presse- und Meinungsfreiheit. Seit dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 gehören diese der Vergangenheit an. Durch den ausgerufenen Ausnahmezustand wurden vor allem prokurdische und linke Medien verboten. Neben zahlreichen Verhaftungen von JournalistInnen kam es dazu, dass mindestens 157 Medien mundtot gemacht wurden und die meisten übrig gebliebenen sich an die Regierungslinie halten. Oppositionelle wurden von nun an verhaftet und eine Anklageschrift reicht aus, um diese bis zu fünf Jahre lang gefangen zu halten, ohne dass es überhaupt zu einem Prozess kommt. Trotz einer im Juni diesen Jahres geplanten Gesetzesreform sitzen noch tausende oppositionelle AkademikerInnen, JournalistInnen und Akteure in Haft. Konkrete Gesetzesänderungen lassen auf sich warten.
  3. Die Flüchtlingspolitik. Im Rahmen des Flüchtlingsabkommens, das Europa mit der Türkei geschlossen hat, befindet sich die Türkei in einer Art „Türsteher“-Funktion für die EU. Ohne selbst drin sein zu dürfen, soll sie dafür sorgen, dass keine ungebetenen Gäste kommen. Die Geheimwaffen hierfür sind ein starker Grenzschutz, die Behinderung von Schleppern, welche die griechischen Inseln anfahren, und Frontex, die Agentur zur Überwachung der Grenzen. Geflüchtete, die sich ohne Recht auf Asyl in Griechenland aufhalten, sollen durch die Türkei zurückgeführt werden. Menschenrechtsorganisationen berichteten, dass Geflüchtete in der Türkei, die nicht dort registriert worden sind, direkt wieder abgeschoben wurden. Inwieweit dieses Vorgehen gerecht gegenüber den Menschen ist, die zurück in ein Kriegsgebiet geschickt wurden, bleibt offen. Ein entscheidender Faktor dieser Thematik ist zudem, dass sich die EU durch dieses Abkommen von der Türkei abhängig macht. Und das bleibt, wie aktuelle Entwicklungen zeigen, nicht folgenlos.
  4. Die Offensive gegen die KurdInnen. Kurdische Milizen der YPG, die gemeinsam mit den USA den IS bekämpft haben, kontrollieren derzeit das Gebiet Nordsyriens, in dem die Türkei nun eine Schutzzone errichten will. Sie will damit einerseits den kurdischen Einfluss eindämmen und andererseits eine massenhafte Flüchtlingszuwanderung verhindern. Abgesehen von der Tatsache, dass Erdoğan eine Art türkische „Kolonie“ außerhalb seines Staatsgebietes gegen den Willen der dort lebenden KurdInnen errichten möchte, ist auch der Wunsch, Flüchtende zurückzuhalten, kritikwürdig. Es wird befürchtet, dass diese militärische Offensive den gefangenen IS-KämpferInnen eine Flucht aus den kurdischen Haftanstalten ermöglichen könnte. EU-PolitikerInnen distanzieren sich von der Offensive, kritisieren sie und Angela Merkel bittet darum, diese zu beenden. Inwieweit die NATO, in der sowohl die Türkei als auch Deutschland Mitglied sind, in den Konflikt hineingezogen werden, sofern syrische Truppen die Türkei angreifen, bleibt abzuwarten. Im schlimmsten Fall können NATO-Mitgliedsstaaten in die Kriegsangelegenheiten verwickelt werden. Da die Türkei aber ein wichtiger Teil des EU-Flüchtlingsabkommens ist, sind die europäischen Staaten auf sie angewiesen und müssen Fingerspitzengefühl zeigen. Das könnte sich in einer so heiklen Situation als schwierig herausstellen.
  5. Militär-Salut der türkischen Nationalmannschaft. Nicht nur das Verhalten des Staatschefs und der hinter ihm stehenden Regierung ist bedenklich. Inzwischen kam es zu einem Salut-Jubel seitens der türkischen Nationalspieler nach dem Siegtor im Spiel gegen Albanien. Es liegt nahe, dass die Spieler mit dem Militärgruß Bezug auf die Offensive gegen Syrien genommen haben. Da eine Fußball-Nationalmannschaft grundsätzlich eine repräsentative Wirkung für die Nation ausübt, sind derartige Solidaritätsakte fragwürdig. Politische Äußerungen sind jedoch laut UEFA-Pressechef Philip Townsend verboten. Ein Bild von den Fußballern mit dem Militärgruß, den der türkische Verband auf Instagram gepostet hatte, hat als Untertext „Wir möchten den Sieg den tapferen Soldaten und Märtyrern widmen“. Das Bild hat zehntausende Likes. Das zeigt, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung offenbar hinter der Offensive steht.

Natürlich kann man nun fragen, ob es nicht trotz dieser fünf Gründe pauschalisierend und denunzierend denen gegenüber ist, die selbst in der Türkei leben und damit nicht konform gehen. Allerdings ist fraglich, wie Menschen, die nicht in diesem Land leben, sonst gegen die Politik des Staatschefs und der Regierung vorgehen sollen. Neben der gelebten Demokratie auf dem Wahlzettel haben deutsche BürgerInnen noch eine andere Möglichkeit zu wählen: durch ihr Konsumveralten. Das bedeutet, dass jede/r frei wählen kann, wofür er oder sie Geld ausgibt. Wer sich weigert, den Tourismus als Wirtschaftszweig eines Systems bzw. einer Regierung zu unterstützen, die politische Entscheidungen trifft, die auf humanistischer Ebene mehr als fragwürdig sind, der wählt. Wer dafür sorgt, dass kein Geld in eine Staatskasse fließt, die dieses für militärische Offensiven, gewaltsame Vorgänge und Menschenrechtsverletzungen ausgibt, der wählt. Diese Wahl stellt sich gegen Erdoğan, unter dem so viele Menschen vor Ort leiden müssen. Dementsprechend würde das Nicht-Unterstützen der türkischen Tourismusbranche unterdrückten und benachteiligten TürkInnen und KurdInnen eher nützen, als wenn diese eben genannten Kritikpunkte bei der Wahl des Urlaubsortes keine Rolle spielen würden.

Text: Emilie Herrmann

Foto: Amac Garbe

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