Sarah Kuttners neuester Roman „Kurt“ erzählt die Geschichte einer Patchworkfamilie, die mit dem Tod konfrontiert wird – mitfühlend und eindringlich, dabei aber unaufgeregt und ohne Kitsch.
Dass diese Rezension erst Monate nach der Veröffentlichung des Buches im vergangenen März erscheint, hat rein gar nichts damit zu tun, dass „Kurt“ anstrengend zu lesen ist – wenngleich sein Thema viele womöglich abschreckt. Ja, es geht um den Tod. Schlimmer noch: Ein kleines Kind stirbt. Und zwar der kleine Kurt. Und das, obwohl sein Vater, auch Kurt, und dessen Freundin Lena ihm zuliebe erst kurz zuvor ein Haus in der brandenburgischen Pampa gekauft haben. Hier soll er viel Platz haben, sich auszutoben – fernab des Berliner Großstadtlärms – und der lästige Pendelweg zu Kurts Exfrau, Kleinkurts Mutter, verkürzt sich um ein Vielfaches. Der Tod kommt unangemeldet und überrascht die kleine Familie, die sich eigentlich noch gar nicht wirklich gefunden hat, die im neuen Haus noch gar nicht wirklich angekommen ist.
Doch zurück auf Anfang. Der Roman beginnt ja nicht mit dem Tod des kleinen Kurt. Vielleicht würde man das Buch dann tatsächlich direkt weglegen. In Anbetracht dessen, was die Leser_innen im zweiten Kapitel erwartet, tut Kuttner etwas fast Unverzeihliches: Sie beschreibt die Charaktere und deren Interaktionen so eindringlich und verdichtet, so charmant, dass man sich schnell in den kleinen Kurt verliebt. Zum Beispiel, wenn er seine klischeegläubige Mutter vorführt, als diese ihn abholen kommt, noch bevor er sein Tagesziel – das Eingraben einer Pflanze – erreicht hat:
„Mit deiner kleinen Mädchenschaufel dauert das doch ewig!“, sagt Jana bestätigend, und in meinem Kopf rolle ich die Augen, dass es knirscht.
„Das ist keine Mädchenschaufel!“, sagt Kurt und betrachtet sie verwundert, falls er irgendwas daran übersehen haben könnte.
„Aber es sind Blumen drauf!“, sagt Jana, die nun alles an vernünftiger Gendererziehung mit gepflegter Dümmlichkeit wieder einreißt. Jetzt muss ich was sagen, aber Kurt ist schneller. Und schlauer: „Ja, aber wir graben damit ja auch Blumen ein! Was soll denn da sonst drauf sein?“
„Da sind nur pinke und lila Blumen drauf“, sagt Jana wie ein bockiges Kind, und vielleicht muss ich ihr gleich mit meiner Erwachsenenschippe eins überziehen.
„Aber ganz viele Blumen sind doch pink und rosa und lila!“, erwidert Kurt, und man sieht ihm das fehlende Verständnis für seine Mutter, die sich mit Blumen ja offensichtlich überhaupt nicht auskennt, an. Gott schütze diesen kleinen Veilchenmann, der noch nicht begreift, dass Pflanzen hier gar nicht das eigentliche Thema sind.
Auch der große Kurt und seine Partnerin Lena sind so sympathisch, dass man schon nach kürzester Zeit Teil dieser kleinen Familie sein möchte. Die Kurts, Lena, aber auch Kurts Exfrau sind greifbare Charaktere. Es sind „normale“ Menschen, wie man sie im Berlin unserer Zeit und Berlins Speckgürtel tagtäglich antrifft. Viel Kuttner steckt in ihnen, geht es um ihre Vorlieben für Musik, Serien und Popkultur im Allgemeinen. Ebenso wenig zufällig spielt die Geschichte im Brandenburgischen und tauchen mal hier und da Hunde auf. Wer mit Kuttner „aufgewachsen“ ist, erkennt schnell, wo die Autorin Persönliches einstreut. Hingegen haben die Themen Tod und Trauer sowie Gartenpflege eher zufällig Einzug in Kuttners Schaffen gefunden, erklärt sie im Anschluss an die Dresdner Lesung. Ja, in Sachen Gartenarbeit unterbelichtete Leser_innen können durchaus etwas lernen. Doch auch wenn die 80 Seiten Nahaufnahme der Kleinfamilie ausgelesen sind und der kleine Kurt gestorben ist, verliert sich Kuttner nicht in ellenlangen Passagen über Tränen und Trauer. Fast nüchtern beschreibt sie Kurts Unfall. Die Geschichte der drei Erwachsenen, die nun mit dem Verlust ihres Kindes umgehen müssen, erzählt die Autorin gerade so ernsthaft wie nötig und doch so locker, dass die schmerzlichen Szenen auszuhalten sind. Und das ist auch die Stärke des Romans.
Lässt man sich auf die Geschichte ein, ist das Buch innerhalb eines oder zweier Tage ausgelesen. Längeres Weglegen empfiehlt sich nicht, denn so kommt die Atmosphäre des Romans abhanden. Zudem ist „Kurt“ kein Buch, vor dessen Auslesen man Angst haben müsste, das einen ratlos zurücklässt. Im Gegenteil: „Kurt“ sorgt für ein außergewöhnlich schönes Leseereignis. Der Roman fasst sich nicht nur gut an – auf die äußere Erscheinung des Buches ist Kuttner übrigens sehr stolz, wie Besucher_innen der Dresdner Lesung erfahren durften, denn sie hat das Cover selbst gestaltet. „Kurt“ ermöglicht seinen Leser_innen darüber hinaus die Beschäftigung mit einem Thema, über das wir oftmals nicht sprechen wollen, obwohl es so notwendig und selbstverständlich zu unser aller Leben gehört: der Tod und das Weitermachen danach.
Text: Marie-Therese Greiner-Adam
Foto: Amac Garbe