War das Ei vor der Henne da? Eine unbeantwortbare Frage. Auch und gerade bei komplexeren Problemen als die Suche nach dem Ausgangspunkt des Spiegeleis stellt sich die Frage: Wer hat’s erfunden?
Im Moment interessiere ich mich persönlich stark für die zu beobachtende Veränderung der Arbeitswelt. Selbst wenn man die Tageszeitungen nur querliest, fallen zu diesem Thema allenthalben Schlagworte wie Flexibilisierung, Dynamisierung, Digitalisierung, Automatisierung, wobei diese Entwicklung zu Teilzeitjobs, prekärer Beschäftigung, fehlender Rentenvorsorge und Altersarmut führen könne. Oft werden die Folgen dieser Entwicklung also negativ bewertet.
Fragt man allerdings mal in seinem (studentischen) Freundeskreis herum, welche Wünsche sie an ihre spätere Arbeitsstätte knüpfen, zeigt sich zwar ein ähnliches Bild, doch die Bewertung fällt gänzlich anders aus. Nach Gesprächen mit zirka zehn KommilitonInnen und Freunden offenbart sich vor allem eines: Zeit vor Geld! Keiner meiner GesprächspartnerInnen möchte einen klassischen Vollzeitjob. Niemand träumt von einer Karriere, die mehr als 20 bis 30 Wochenstunden bedeuten würde. Niemand glaubt, dass mehr als ein paar Jahre im selben Betrieb zugebracht werden. (Und niemand glaubt noch ans Rentensystem!) Und das alles, obwohl zumindest derzeit die Aussichten auf einen unbefristeten „Vollzeit“-Job gar nicht so schlecht sind.
Die Normen und Werte junger Generationen wie die meiner/unserer haben sich extrem verschoben. So wenig Autos heute noch als Statussymbol dienen (wie peinlich!), so wenig ist die Aussicht auf ein klassisches Arbeitsverhältnis erstrebenswert. Denn was soll man denn mit dem öden Geld, wenn man keine Zeit für die Familie hat? Wie soll man sich ehrenamtlich engagieren? Wie soll man sich politisch engagieren? Wie sollen beide Elternteile für ungefähr die gleiche Betreuungsleistung potenzieller Kinder aufkommen? Wie soll man das Leben genießen können? Wer glaubt, dass die gewandelten Normen etwas mit Müßiggang und Faulheit zu tun haben, ist jedenfalls auf dem Holzweg. Denn: Der Wunsch nach Arbeitszeitreduktion ist zwar Ausdruck gewandelter Normen und Werte. Dieser Wandel ist allerdings durch die bereits erfolgte Veränderung der Arbeitswelt selbst erfolgt, die Wirtschaft hat diesen vermeintlichen Müßiggang erst selbst produziert. Wie das?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde die alte Arbeitswelt samt ihrer militärisch hierarchisierten Struktur aufgebrochen. An die modernen ArbeiterInnen wurden neue Anforderungen herangetragen: Sie müssen nun unternehmerisch denken, sind auch innerhalb von Betrieben Konkurrenz ausgesetzt. Ein Beispiel zur Andeutung: Früher, die Zeit also, die sich AfD (blauäugige Familie, Haus am Eichenwald, Dackel, Gartenzwerg) und Teile der Linken (zurück zur Marktwirtschaft Ludwig Erhards, was teilweise tatsächlich zu begrüßen wäre) zurückwünschen, waren die Aufgaben innerhalb von Unternehmen klar verteilt. Aufgrund dieser Hierarchisierung und fehlender Konkurrenz war man zwar weniger produktiv, dafür war sie aber sozialer. Denn: Eine klare Hierarchie sowie keine oder wenig Konkurrenz innerhalb von Unternehmen schafft neben Gehorsam auch Solidarität und das Gefühl von Nützlichkeit. Sobald die ArbeitnehmerInnen allerdings von diesem starrem Gehäuse „befreit“ und das „dynamische Unternehmen“ geboren wurde, verloren sich diese Vorteile: Konkurrenz schafft Missgunst. Konkurrenz schafft Entsolidarisierung. Konkurrenz zwischen den ArbeitnehmerInnen schafft Entfremdung. Wieso noch 40 Stunden arbeiten, wenn 30 zum Leben ausreichen? Wieso „Vollzeit“, wenn der Arbeitstag viel verdichteter ist? Wieso solidarisch sein, wenn man einem Markt ausgesetzt ist, in der das „unternehmerische Selbst“ zur Ikone wird? Wenn es kaum mehr „einfache“ Arbeit gibt? Wieso so lange arbeiten, wenn man um einiges produktiver ist als vor der Digitalisierung? Und vor allem: Wieso so viel arbeiten, wenn man nicht mehr an das staatliche Rentensystem glaubt?
Alles in allem stellt sich die Frage: Ist es wirklich fair, wenn trotz der durch die Digitalisierung und Flexibilisierung ausgelösten Verdichtung und zunehmenden Taktfrequenz der Arbeit, wobei dadurch sowohl Produktivität als auch psychischer Stress zugenommen haben, die geleistete Arbeitszeit parallel seit Jahrzehnten konstant bleibt? Ich habe da meine Zweifel. Es ist auch eine Frage der Logik. Logisch und rational ist es eben nicht (mehr), 40 Stunden arbeiten zu wollen.
Dabei gibt es so viele vorbildliche Beispiele: Ein Unternehmen in den USA lässt nur noch maximal vier bis fünf Stunden am Tag arbeiten und hat seine Produktivität immens gesteigert, die Umsätze stiegen um 40 Prozent. In Skandinavien ist der 6-Stunden-Tag sehr weit verbreitet, bei vollem Lohnausgleich. Wieso? Die Produktivität steigt, die Angestellten sind und machen weniger krank, auch die Zufriedenheit und damit die Leistungsbereitschaft steigt, die Kosten sinken (die Effektivität nimmt um bis zu 50 Prozent zu!). In Deutschland sieht es leider trüber aus, zumindest im Vergleich zu Skandinavien: Hier werden durchschnittlich 41,5 Stunden die Woche gearbeitet, in Schweden zwei und in Dänemark zirka drei Stunden weniger. Selbst der kürzlich vollbrachte Tarifabschluss der Metallindustrie, der in Deutschland als Erfolg verkauft wird, geht nur zum Teil in die richtige Richtung. Die, immerhin, 35-Stunden-Woche bleibt das Maß aller Dinge, Abweichungen erlaubt. Sinnvoller wäre es allerdings, die Normalität selbst zu ändern.
Diese Kolumne könnte nun beendet werden, allerdings wird dies durch das Henne-Ei-Problem durchkreuzt. Hat der böse neue Kapitalismus, der den flexiblem Menschen schuf, die neue Arbeitswelt hervorgebracht – oder waren es doch eher AvantgardistInnen aus der Zivilbevölkerung, der StudentInnenschaft? Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen und Ursache und Wirkung bedingen sich gegenseitig. Dass es allerdings nicht einseitig die neuen Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaft sind, die die neue Arbeitswelt erschaffen haben, sei hier an einem Beispiel festgemacht: In der Port-Huron-Erklärung von 1962, ein von linken amerikanischen StudentInnen initiiertes Manifest, wurde u. a. für ein Ende der alten, starren Arbeitswelt und dessen Käfige plädiert. Insofern kann man sicher behaupten, dass die heutige Sehnsucht nach Arbeitszeitreduktion vieler mir bekannter StudentInnen nicht unbedingt (nur) ein Ausdruck sich wandelnder Umstände im – mit Marx gesprochen – Überbau sind. Die Basis hat sich emanzipiert. Zum Glück.
Text: Martin Linke
Foto: Amac Garbe