Das Radeberger Storchennest ist ein Refugium für Taubblinde. Und doch geht es hier alles andere als schweigsam zu.
Andreas Herold: Anfang 60, graue Haare wie George Clooney, ernstes Gesicht. Er steht in einem mollig warmen Gewächshaus, vor sich ein kleiner Arbeitstisch aus Metall. Daneben Bianca Dreghin: Mitte 20, blonde Locken, großes Lächeln. In der Hand hat die Ergotherapeutin eine ziemlich welke Pelargonie, die sie Andreas Herold vor die Nase stellt. Ohne zu zögern greift Dreghin nach seiner Hand und führt sie die Pflanzenstängel entlang. Zwei abgezupfte Blätter reichen, dann formen Andreas Herolds breite Lippen ein Lächeln, nein: ein Grinsen. Er hat seine Aufgabe verstanden, die welken Blätter müssen ab. Unmöglich, ihm das einfach zu erklären oder zu zeigen: Andreas Herold ist taubblind.
Damit ist Herold einer von geschätzt 6.000 bis 10.000 Taubblinden in Deutschland, genauere Zahlen gibt es nicht. Das sind also Menschen, die „in einer Isolationshaft mit sich selbst leben“. So formuliert es Ulrike Fourestier, eine Frau, die in ihrem Leben schon viele Taubblinde kennengelernt hat. Durch Zufall kam sie als Studentin über ein Praktikum zur Arbeit mit Behinderten – heute leitet die Pastorin den Taubblindendienst Storchennest im sächsischen Radeberg. Die Einrichtung leistet den Taubblinden zum einen ganz alltägliche Hilfe: Von A nach B kommen, Behördengänge begleiten, solche Dinge. Zur Anlage gehört auch der Botanische Blindengarten, in dessen Gewächshaus Andreas Herold gerade Blätter zupft. Die üblichen Infotafeln oder Wegweiser entlang der Wege sucht man vergebens – und findet stattdessen Brailleschrift auf Schildern und Geländern. So sind die Taubblinden nicht auf eine Begleitung angewiesen, können den Garten frei erkunden.
Doch das Storchennest ist vor allem eines: Begegnungsstätte. Für Menschen, die mit maximal 20 Prozent der normalen Sinneswahrnehmung leben müssen. Die keine Gesichter sehen, keine Stimmen hören. Die gefangen sind in den eigenen Gedanken. Jedes Gespräch ist dann Gold wert. Nur: Was heißt das, mit Menschen zu kommunizieren, die einen weder sehen noch hören können? „Zuerst einmal“, sagt Ulrike Fourestier, „heißt das, Respekt zu haben.“ Fourestier ist eine zurückhaltende, fast unscheinbare Frau Ende 50. Ihre Worte wählt sie mit Bedacht, spricht langsam und mit ruhiger Stimme. „Taubblinde Menschen müssen immer die Leistung erbringen, den Tag überhaupt zu beginnen.“ Kurze Pause, Blick zum Fenster. „Und dabei nicht irre zu werden.“
Einen Moment noch schweben die Worte in dem kargem Büro – Schrank, Mikrowelle, Laptop. Dann klopft es an der Tür, ein Mann in einer sehr bunten und sehr großen Regenjacke ist aus dem tristen Grau ins Warme getreten. Er möchte, so scheint es, etwas sagen. Doch zu hören sind nur Laute. Fourestier nimmt die Hand des Mannes und zeichnet ihm mit dem Finger so schnell Punkte und Striche in die Hand, dass man den Bewegungen kaum folgen kann. Der Mann aber nickt zufrieden, schließlich spricht er diese Sprache: das Tastalphabet Lormen. A ist die Spitze des Daumens, S ein Kreis in der Handfläche: das ganze Alphabet auf einer Hand. Doch in der Kommunikation mit Taubblinden ist das Tastalphabet nur eine Möglichkeit – eine von vielen. Mindestens ebenso wichtig ist die Gebärdensprache, genauer: taktile Gebärden. Kommuniziert wird, indem der Taubblinde seine Hände auf jene seines Gegenübers legt, während diese gebärden. Form und Bewegung der Gebärden werden regelrecht nachgefühlt. Der Lernprozess ist kurz, schließlich ist Gebärden die Muttersprache vieler Betroffener: Sie leiden am Usher-Syndrom, bei dem die Gehörlosigkeit zwar häufig angeboren ist, das Sehvermögen aber erst im Laufe des Lebens verloren geht.
Auch Andreas Herold besitzt noch einen Rest seines Augenlichts. Mittlerweile ist er bei der dritten Pelargonie angekommen, die Handgriffe sitzen. Nur manchmal eben, da greift er nach einem satt-grünen Blatt und versucht es abzuziehen. „Er macht noch zu viel über das Sehen“, meint Dreghin. „Es wäre besser, wenn er die welken Blätter erfühlt.“ Die Sprache, mit der sie ihm das erklärt: taktile Gebärden. Sie nimmt seine Hand, fährt noch einmal den Stängel der Pflanze ab, legt die Gebärden in seine Hand. Der Mann folgt ihren Bewegungen aufmerksam, den Kopf leicht gesenkt – als wollte er in die Hand hineinhorchen. Mit Taubblinden zu kommunizieren, das heißt: eine gemeinsame Sprache finden.
Wie gut das klappt, demonstriert Dreghin gleich noch einmal: Sie nimmt die Hand des Mannes und führt sie von der Pflanze weg. Der Mann nickt, seine Mundwinkel schnellen nach oben: neun Uhr, endlich Kaffeepause. Und die wird im Storchennest zelebriert, heißt Kaffeepause doch: Wir können uns unterhalten. „Taubblinde müssen immer auf die Kommunikation warten. Deshalb sind sie umso dankbarer für jedes Gespräch.“ Bianca Dreghin hat den Satz kaum beendet, da reicht Andreas Herold ihr einen Zettel über den Tisch. Er beginnt, kaum lesbar, mit dem Wort „Gärtner“. Es folgen Fotos, die ihn an eine Leiter gelehnt auf einer Obstwiese zeigen. Auf der Rückseite ist die Jahreszahl vermerkt: 1994. Deshalb also das breite Grinsen im Gewächshaus: Herold ist Gärtner. Oder wohl eher: Er war Gärtner. Im Leben vor der Taubblindheit.
Melancholie aber kommt keine auf. Die Gesprächsthemen wandern hin und her, das Leben, das Wetter, der Garten. Gärtner und Ergotherapeut David Fenk, auch er macht gerade Pause, streicht sich mit der Hand unterhalb der Nase entlang. Will sagen: Ich habe die Nase voll vom Laub kehren! Auch Herold hat die Gebärde erkannt, er lacht. Kommunikation mit Taubblinden heißt auch: Freunde finden.
Die Welt wirkt ziemlich heil an diesem Donnerstagmorgen. Die Sonne scheint in das kleine Zimmer, der Kaffee dampft friedlich vor sich hin. Und Andreas Herold hat noch das eine oder andere Foto in petto.
Doch ist diese Kaffeepause, ist das Radeberger Storchennest alles andere als ein Sinnbild der Realität. Nicht nur der Botanische Blindengarten ist der einzige seiner Art in der Bundesrepublik. Viel zu rar sind auch Beratungsstellen – nicht einmal jedes Bundesland verfügt über eine. Die Situation taubblinder Menschen ist vieles, aber keine heile Welt. Erst 2004 hat das Europäische Parlament in einer förmlichen Erklärung festgestellt, dass taubblinde Menschen nicht unter zwei einzelnen, sondern unter einer Behinderung eigener Art leiden. Doch noch immer gibt es nicht einmal ein separates Kennzeichen für Taubblinde im Schwerbehindertenausweis. Noch immer steht da: „taub“ und „blind“. Zumindest dem will das neue Bundesteilhabegesetz, das am 1. Januar 2018 in Kraft tritt, ein Ende setzen. Zu verdanken ist das auch der Überzeugungsarbeit von Verbänden wie dem Radeberger Taubblindendienst. „Die Taubblinden selbst können keine Lobby bilden“, sagt Bianca Drehgin. „Sie sind auf uns angewiesen.“ Auch das heißt Kommunikation mit Taubblinden: Für sie sprechen.
Der Kaffee ist alle, die Zeit fortgeschritten, die Arbeit ruft. Doch erst mal setzt sich niemand in Bewegung. Dreghin lacht. „Ohne Smalltalk sind sie nicht sehr motiviert.“ Das also heißt es, mit Taubblinden zu kommunizieren: ihnen eine Freude machen.
Text: Luise Martha Anter
Foto: Amac Garbe
Es ist ein sehr informativer Text und einfühlsam erzählt – weiter so!
Danke für diesen schönen Beitrag!