Filmtipp des Monats II: Emilia Pérez

Ab heute entführt uns dieser außergewöhnliche Film über die deutschen Kinoleinwände auf eine cineastisch-wilde Reise durch die unvorhersehbaren Tiefen der kriminellen Unterwelt.

Ein lohnender Balanceakt

Über „Emilia Pérez“ eine Rezension zu schreiben ist ein Unterfangen voller Fallstricke, eine regelrechte Gratwanderung. Einerseits sollten Menschen, die ein Herz für aufregendes aktuelles Kino haben, durch die Rezension unbedingt zum Schauen dieses Films motiviert werden. Denn aufregend und zeitgemäß ist der neue Spielfilm von Regisseur Jacques Audiard unbedingt, das sei hier direkt mal klargestellt. Andererseits darf interessierten Kinogänger:innen nichts von dem Erlebnis der ersten Sichtung genommen werden, welche so unbefangen wie möglich geschehen sollte. Ein schwieriger Balanceakt also, der sich aber unbedingt lohnt und angegangen werden sollte. Nun denn, auf geht‘s!

Gesellschaftliche Ränder im Blick

Wer sich für relevantes zeitgenössisches Kino interessieren sollte, dürfte in den vergangenen paar Jahren wohl kaum an dem Werk von Regisseur Jacques Audiard vorbeigekommen sein. Spätestens mit seinem Film „Dheepan“, welcher den deutschen Titel „Dämonen und Wunder“ trägt und 2015 in Cannes die Goldene Palme gewinnen konnte, hatte Audiard zumindest die volle Aufmerksamkeit der europäischen Filmlandschaft.

Mit seiner ungewöhnlichen, aber ungemein eindringlichen Western-Adaption „The Sisters Brothers“ aus dem Jahr 2018, welche solch illustre Hollywood-Schauspielgrößen wie Joaquin Phoenix, Jake Gyllenhall und John C. Reilly vereint, konnte Jacques Audiard schließlich auch über die europäischen Grenzen hinaus Interesse wecken. Letztlich stieß der Film mit seiner eigenwilligen Inszenierung und Erzählweise aber nicht nur auf Gegenliebe und Audiard bleibt bis heute weiterhin ein Geheimtipp.

Das passt an sich auch ganz gut, schließlich gilt sein filmisches Interesse stets Figuren, die sich ebenfalls am Rande der Gesellschaft und in deren Schatten bewegen. Seien es nun Menschen im Strafvollzug, Geflüchtete oder Kopfgeldjäger. So unterschiedlich die resultierenden Filme und ihre Handlung letztlich auch sind, sie werfen allesamt Blicke auf Menschen, welche gewöhnlicherweise nicht im Scheinwerferlicht stehen oder wenn dann noch seltener im positiven Sinne.

Zugleich sind diese filmischen Blicke in gesellschaftliche Untergründe nie verurteilend und ebenso wenig glorifizierend. Jacques Audiards Filme zeigen widersprüchliche Charaktere in ihrer ganzen Komplexität und überlassen es dem Publikum, sich auf diese einzulassen oder eben nicht. An diese Tendenz schließt sichEmilia Pérez“, seine neueste Regiearbeit, an und führt sie in ganz neue Sphären.

Leben und Figuren im Wandel

Im Zentrum von „Emilia Pérez“ steht zunächst gar nicht die titelgebende Figur, sondern Rita (Zoe Saldaña), eine Anwältin, welche ihre ausgeprägten Fähigkeiten zur Strafverteidigung zunehmend auch der Unterwelt von Mexiko zur Verfügung stellt. Erst nach und nach verschiebt sich der Fokus des Films und bleibt auch bis zum Schluss in ständiger Bewegung, kommt nie wirklich zur Ruhe.

Angelockt durch ein finanzielles Angebot, welches ihr ein großes Maß an materieller Freiheit und damit eine ersehnte Lebensveränderung verspricht, gerät Rita an den mächtigen Kartellboss Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón). Manitas bietet Rita ein Leben in Reichtum für die Organisation des eigenen Lebenswandels. Denn Manitas möchte nicht mehr sein wie zuvor, weder Kartellboss noch überhaupt Manitas, möchte sowohl den bisherigen Lebensstil, als auch die bisherige Geschlechtszuordnung hinter sich lassen – und nimmt dafür auch die Trennung von geliebten Menschen in Kauf.

Aus dieser Konstellation und dem anschließenden Zurücklassen von Manitas, dem Kartellboss, entspringt schließlich also die titelgebende Emilia Pérez und ein ständiges Wechselspiel beginnt. Weder Rita noch die Zuschauer:innen werden von Jacques Audiard jemals über die zugrunde liegenden Motive für diesen Lebenswandel in Sicherheit gewogen, was filmisch einerseits stark und mutig ist, sich aber andererseits in seiner Wirkung auch einer kritischen Hinterfragung aussetzen muss.

Ein kritischer Blick ist gefragt

Der Film lässt es letztlich ziemlich offen, ob die Veränderung von Manitas zu Emilia einem inneren Bedürfnis und Empfinden entspringt oder vielmehr auf einer egoistischen Flucht vor strafrechtlicher Verfolgung und Rechenschaft für die begangenen Taten fußt. Manitas wird als ein skrupelloser Mensch inszeniert, welcher weder vor Erpressung noch vor eiskaltem Mord zurückschreckt, um die eigenen Interessen zu verfolgen.

Der Film lässt es nicht so wirken, als ob der Übergang zu Emilia grundsätzlich etwas an dieser Skrupellosigkeit ändern würde, so sehr Emilia auch beteuert, für das vorangegangene Leben einstehen und davon Abstand nehmen zu wollen. Dennoch geht dieser Mensch für die vorgenommenen Veränderungen zugleich existenzielle Opfer ein, setzt beispielsweise bewusst die enge Beziehung zur eigenen Familie aufs Spiel, was wiederum auf ein unumgängliches und von äußeren Zwängen unbeeinflusstes Bedürfnis nach diesem Schritt schließen lässt. All das macht die Darstellung dieser Figur interessant, vielschichtig und glaubwürdig, jedenfalls nicht plakativ.

Dennoch gibt das Licht, welches „Emilia Pérez“ auf die komplexen Themenfelder Geschlechtsumwandlung und Genderfluidität wirft, Anlass zur Kritik. Das gezeichnete Bild des Wandels von Manitas zu Emilia und die damit verknüpften Vorgänge wirken letztlich etwas unbedarft und haben einen bitteren Beigeschmack von Trivialisierung, zumal dessen Inszenierung durch einen binären cis-Mann verantwortet wurde. Beispielsweise wird die medizinische Infrastruktur hinter Geschlechtsumwandlungen in einer Szene augenzwinkernd als eine Art Varieténummer vorgeführt, welche keinem weiteren Zweck dient, als reichen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Bei aller berechtigter Kritik an einer zunehmenden Kapitalisierung medizinischer Versorgung wirkt dieser Ansatz eher wie eine zu kurz gegriffene Gleichsetzung von geschlechtsumwandelnden Eingriffen mit eitler Schönheitschirurgie.

Ein sehenswertes Kinoerlebnis

Insgesamt hält „Emilia Pérez“ eine derartige kritische Hinterfragung aber unbedingt aus, was der generellen Vielschichtigkeit und Komplexität des Films zu verdanken ist. Ob der Film einer inhaltlichen Kritik diesbezüglich ultimativ auch standhält, muss von kompetenterer und vor allem berechtigter Seite dargelegt werden.

Jacques Audiard hat den Film jedenfalls mit nahezu allen Mitteln der Filmkunst sowie auch anderen Kunstformen und einer fast schon unbändigen Energie inszeniert. Es wird getanzt, gesungen und alle Interaktionen haben eine musikalische Rhythmik an sich. Dadurch entwickelt das entstandene Werk eine große Sogwirkung, welche unbedingt auf eine Kinoleinwand gehört und möglichst in diesem Kontext erlebt werden sollte. Kamera, Schauspiel, Ton, Regie und alle beteiligten Gewerke zeigen sich von ihrer besten Seite, was ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk ergibt. Zudem lädt das zuvor beschriebene Wechselspiel im Handlungskern vonEmilia Pérez“ nicht nur zum Miträtseln und -fiebern ein, es ist auch schlichtweg sehr unterhaltsam.

Ein unbedingt empfehlenswertes Kinoerlebnis also, welches, wie eingangs erwähnt, möglichst unvoreingenommen angegangen und beurteilt werden sollte, was die Diskussion im Kinofoyer anschließend umso angeregter werden lässt. Und hoffentlich hat die vorliegende Rezension den versuchten Drahtseilakt zwischen Erhellung und Verschleierung erfolgreich genug absolviert, um die gewünschte Neugierde zu wecken.

Text: Carl Lehmann

Foto: Mehr Vanitas dank Manitas: Endlich steht auch Rita (Zoe Saldaña) im ganz großen Schweinwerferlicht. © Neue Visionen Filmverleih, Wild Bunch Germany

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