Die Protestwelle ebbt nicht ab. Nach Offenlegung eines Treffens, bei dem im vergangenen November Rechtsextreme unter anderem die millionenfache Vertreibung von Menschen aus Deutschland diskutiert haben sollen, demonstrieren bundesweit seit drei Wochen wöchentlich Hunderttausende. Die Bewegung reicht dabei weit über linke Großstadtmilieus hinaus. Demonstriert wird auch in den sächsischen AfD-Hochburgen oder in meiner Heimat im ländlichen Nordhessen, in der ich während meiner Schulzeit kaum einen Protest erlebt habe. Schon jetzt handelt es sich Protestforscher Dieter Rucht zufolge um „die größte Protestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik“.
Beeindruckende Massen
Die Massenmobilisierung stiftet Hoffnung. Der Aufschrei der schweigenden Mehrheit ist wichtig, da er genau das sichtbar macht: Dass es die demokratische Mehrheit der Bevölkerung ist, die sich hier einer sonst oft lauteren und immer radikaleren Rechten entgegenstellt. Und auch, wenn eine Kausalität kaum nachzuweisen ist, zeigt der vorsichtig zu beobachtende Rückgang der AfD in Wahlumfragen, dass die hohen Zustimmungswerte zu dieser Partei nicht in Stein gemeißelt und Menschen zurückzugewinnen sind.
Dass sich Menschen ganz unterschiedlicher politischer Couleur auf den Protesten vereinen, sieht man bereits an der Vielfalt der gemeinsamen Organisator*innen: War zunächst Fridays for Future Initiator der Kundgebungen, wurde etwa die jüngste Aktion in Dresden am vergangenen Samstag von einem breiten Bündnis aus politischen Parteien, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und aktivistischen Kreisen auf die Beine gestellt. Ein Nebeneffekt der breiten Beteiligung ist dabei, dass teils unterschiedlich kommuniziert wird, wogegen protestiert werden soll.
Einig sind sich alle in der Ablehnung von Rechtsextremismus und Faschismus. Viele rufen darüber hinaus zu klarer Kante gegen die AfD als Partei auf, andere aber umfassender „gegen rechts“. Während Antworten auf die Frage, ob man gegen rechts oder rechtsextremistisch demonstriert und wen man damit eigentlich meint, also abweichen, scheint es vor allem ein geteiltes Wertefundament zu sein, das den Kitt des Protests bildet. Denn egal ob Klimaaktivistin, Familienvater oder Lokalpolitikerin: Gemein ist allen der Ruf nach Demokratie und Offenheit, Toleranz und Vielfalt, Solidarität und Mitmenschlichkeit, gegen Hass und Hetze.
Die Guten hier, die Bösen dort – oder nicht?
Während dieser öffentlich inszenierte Konsens in erster Linie Mut macht, ist er auf den zweiten Blick jedoch nicht ohne Tücken. Denn in der öffentlichen Berufung auf gemeinsame Werte wird alles, was diesen Werten widerspricht – besonders Rassismus, aber auch Demokratie- und andere Formen der Menschenfeindlichkeit –, vor allem als ein Problem der anderen (und eben speziell der AfD) verstanden. Implizit drückt jede*r mit seiner Teilnahme aus: „Ich bin Teil der toleranten, mitmenschlichen und solidarischen Mehrheitsgesellschaft, die ihr angreift.“ Das ist riskant.
Letztendlich kann dies darüber hinwegtäuschen, dass sich zwar glücklicherweise nicht der Extremismus, durchaus aber die ausländerfeindlichen Narrative schon längst auch in den demokratischen Parteien und so mitten in der Gesellschaft eingenistet haben. Akut äußert sich das in der offenen Reproduktion rassistischer Stereotype: Dem des Ausländers als Sozialschmarotzer etwa, der den Deutschen neben der Wohnung auch Zahnarzttermine wegschnappen würde. Letzteres hatte im September kein geringer als CDU-Vorsitzender Friedrich Merz behauptet, von dessen Parteikolleg*innen mindestens zwei selbst am Potsdamer Treffen zwei Monate später teilnahmen.
Alltäglich sind aber ebenso die Darstellung flüchtender Menschen als kollektive sicherheitspolitische Bedrohung ebenso wie die implizite Abwertung ausländischen Lebens und die Konstruktion von Andersartigkeit und Nichtzugehörigkeit. Beispiele dafür gibt es zahlreich, es lohnt sich ein Blick in die Bundespolitik.
Christdemokratie auf Abwegen
Aufschlussreich ist zum Beispiel der jüngst veröffentlichte Entwurf für das neue Grundsatzprogramm der CDU. So startet das mit „Humanität und Ordnung“ überschriebene Kapitel zum Thema Flucht und Asyl mit der Forderung nach einem besseren Schutz der EU-Außengrenzen.
Zwar fällt dies im nach rechts gerückten Asyldiskurs per se nicht mehr groß auf. Doch muss das mindestens zynisch finden, wer sich vor Augen führt, dass eine Partei mit selbst diagnostiziertem christlichem Wertefundament hier den „Schutz“ vor Menschen meint, die sich zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen sehen, ihr Leben auf einer regelmäßig tödlichen Flucht riskieren und in der Bitte um Asyl zuallererst ein Menschenrecht wahrnehmen. „Schutz“ scheint darüber hinaus gleichbedeutend mit Abschottung zu sein: Denn ginge es nach der CDU im aktuellen Papierentwurf, würden zukünftig alle Geflüchtete, die in der EU einen Asylantrag stellen, grundsätzlich wieder ausgewiesen und stattdessen in (erst zu findende) „sichere Drittstaaten“ überführt – wo die meisten auch nach einem positiven Asylbescheid bleiben müssten.
Wer gehört dazu?
Und es geht weiter. Denn auch der Appell an eine deutsche „Leitkultur“ und die Forderung an Eingewanderte, sich an „unsere Art zu leben anzupassen“, offenbaren ein hierarchisches (ergo eingeschränktes) Verständnis von Pluralismus: Sie beschwören ein vermeintliches „Wir“ gegen „das andere“, das unter Generalverdacht gestellt wird, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. In diesem Sinne scheint sich die Partei im Jahr 2024 nicht einmal mehr zur Anerkennung einer einfachen Wahrheit durchringen zu können: Dass bei 5,5 Millionen Muslim*innen im Land und grundgesetzlich verankerter Religionsfreiheit natürlich auch der Islam zu Deutschland gehört.
Von dem, was CDU-Politiker Christian Wulff 2010 und vier Jahre zuvor selbst Wolfgang Schäuble noch prominent bejaht hatten, wird im neuen Papier abgerückt. Es seien „Muslime, die unsere Werte teilen“, die dazugehören: Ein Standpunkt, der in etwa so sinnvoll und diskriminierungsarm ist wie die Aussage es wäre, dass queere Menschen zu Deutschland gehören, Homosexualität allerdings nicht. Und wo wir schon beim Thema sind: Immer mehr CDU/CSU-geführte Landesregierungen finden Gefallen daran, durch das reaktionäre Verbot von geschlechtergerechter Sprache gesetzlich in die Sprachverwendung von Menschen einzugreifen, und versuchen damit perfide, Stimmen am rechten Rand zu fischen, wo die Aufregung über den sogenannten „Genderwahn“ (tatsächlich: die Gleichstellung von Frauen, queeren und Transpersonen) schon Tradition hat.
Den Rechtsruck mit Rechtsruck bekämpfen
Der Blick fällt zuletzt unweigerlich auf die Bundesregierung selbst. Um „endlich im großen Stil“ abschieben zu können (so Kanzler Scholz auf dem Spiegel-Cover im Oktober 2023), verabschiedete die Ampel inmitten der aktuellen Protestwelle ihr euphemistisch betiteltes Rückführungsverbesserungsgesetz. Damit sollen ausreisepflichtige Asylbewerber*innen zukünftig ohne Ankündigung, unter Umständen auch mitten in der Nacht, behördlich aufgesucht, abgeholt und bis zu einem Monat (statt bisher zehn Tage) in Abschiebehaft genommen werden können. Die Polizei erhält außerdem die Befugnis, in Gemeinschaftsunterkünften auch andere Räume als den der ausreisepflichtigen Person zu durchsuchen.
Das Absurde dabei: Das Innenministerium selbst geht davon aus, dass das Gesetz die Zahl der tatsächlich durchgeführten Abschiebungen nur um rund fünf Prozent steigern wird. Etwa, weil Herkunftsländer nicht bereit sind, abgelehnte Asylbewerber*innen wieder aufzunehmen. Dass dafür dennoch die pauschale Einschränkung der Rechte auf Freiheit, Privatsphäre und die Unverletzlichkeit der Wohnung Geflüchteter in Kauf genommen wird, lässt an der moralischen Integrität der Ampel zweifeln. Die Verschärfung des Abschieberechts ist gleichwohl nur Teil eines größeren Bilds, in dem auch die Koalition aus Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen zur Akteurin einer immer restriktiveren Asylpolitik mit erschreckender Menschenrechtsbilanz wird – auf nationaler wie auf europäischer Ebene.
Wider der AfDisierung
Vor diesem Hintergrund ist es durchaus heuchlerisch, wenn sich Vertreter*innen der Ampel-Regierung ungeniert auf einer Demonstration ablichten lassen und den deutschlandweiten Anklang des Protests als starkes Symbol loben. Oder wenn ausgerechnet Friedrich Merz sich freut, wie wir gemeinsam ein „Stoppschild gegen Rassismus“ und „gegen Hetze“ zeigen und für ein Land einstehen, das „weltoffen und frei“ ist. Weil dabei keine*r dieser Akteur*innen nur ein selbstkritisches Wort darüber verliert, welche Rolle sie selbst in der rechtspopulistischen Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas spielen.
Was also bedeutet dies für die aktuelle Demowelle? Eben da rechtspopulistische Ideen längst im Mainstream angelangt sind, erscheint es dennoch wenig praktikabel und kaum zielführend, Parteien, Verbände und ihre Mitglieder vom Protest auszuladen: Die Massenidentifikation mit dem Protest wäre dahin, die Bewegung zerbröckelte. Fatal, wo es doch gerade das Einende der Kundgebungen ist, das solch ein starkes demokratisches Zeichen aussendet – noch dazu in einem Jahr, in dem die AfD-Verbände in Sachsen, Thüringen (beide laut Verfassungsschutz gesichert rechtsextremistisch) und Brandenburg Landtagswahlen zu gewinnen drohen.
Der Protest als Anfang: Wandel einfordern und leben
Doch gilt: Wenn wir es ernst meinen mit den Werten, für die wir öffentlich einstehen, kann sich unser Protest nicht auf die AfD beschränken, sondern muss sich konsequent gegen die Ideologie richten, für die jene steht. Diese beginnt eben nicht erst bei offener Verfassungsfeindlichkeit und Geschichtsrevisionismus, sondern dort, wo Minderheiten nicht die gleichen Rechte zugesprochen und die Schwächsten der Gesellschaft systematisch stigmatisiert werden oder Geflüchtete als Sündenbock herhalten für die Belastungen einer Zeit zunehmender Ungleichheit und multipler Krisen. Denn letztlich ist es all das, was menschenfeindliche Politik salonfähig macht und den Nährboden für Rechtsradikalisierung schafft.
Der Protest kann also erst der Anfang sein. Von allen politisch Verantwortlichen, die mitdemonstrieren und Solidarität bekunden, sollten wir nun verlangen, ihre politische Arbeit radikal an dem moralischen Kompass zu orientieren, den sie auf Protestschildern, Instagram-Beiträgen und Pressestatements selbst zur Schau stellen. Gleichzeitig sollten wir den Protest auch als Weckruf an uns selbst verstehen: Es gilt fortan genau hinzuschauen, wo Rechtspopulismus auch abseits der AfD wirkt, und aufzudecken, wie struktureller Rassismus unsere Gesellschaft durchzieht.
Das Momentum nutzen
Unterlassen wir all dies, laufen wir Gefahr, in Massen zu protestieren und schließlich Inhalte aus dem Parteiprogramm der AfD in schön verpackter Form von einigen der Demoteilnehmer*innen selbst umgesetzt zu sehen. Nutzen wir das Momentum, kann der Protest von einem hoffnungsvollen symbolischen Akt zu einem ehrlich politischen werden: Zu einem Auftakt in eine Zeit, in der wir eingetretene Pfade verlassen und als Gesellschaft wieder ernsthaft darüber nachdenken, wie eine Politik aussehen kann, die nicht hetzt oder ausschließt, sondern auf der Menschenwürde aller fußt. So gelangt die Brandmauer zu Bedeutung. Die können wir nicht einfach sein, wir müssen sie bauen.
Text: Tobias Alsleben
Fotos: Amac Garbe