Wie im Pub

Das 66. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm ist Anfang Oktober über Leipziger Leinwände geflimmert, außerdem gab es vereinzelte Filme im Stream zu sehen. Wir verraten Euch, nach welchen Filmen des DOK Leipzig Ihr auf kommenden Festivals, im Kino oder bei Euren Streamingdiensten des Vertrauens Ausschau halten solltet.

Knit’s Island

Apropos Stream. Viel Zeit am Computer verbringen auch die Protagonist:innen des französischen Animationsfilms Knit’s Island von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h. Die drei Filmemacher:innen haben sich in die (Un-)Tiefen des Survivalgames DayZ begeben und sich über 900 Stunden durch die postapokalyptische Landschaft geschlagen, wobei sie vielen Gamer:innen begegnet sind. Einer von ihnen meint, es wäre, als würde man nach der Arbeit ins Pub gehen. Er lebt in Kapstadt direkt neben dem Tafelberg – und sitzt bis nachts um 3 vorm Computer. Dort geht es ums Überleben. Wir erfahren von Kannibalismus, Figuren werden getötet, weil sie Pflanzen anbauen, ein Mitglied des Filmteams wird quasi aus dem Nichts erschossen, auch Selbstmord gibt es. Aber auch Gemeinschaft, Kontemplation, Zerstreuung. Es sei, als würde man in einem Film leben, sagt einer der Player. Abseits der eigenen Realität, in der man Menschen massiert oder das Kind schreit.

Es ist die Vielfalt an Menschen und ihre Beweggründe, hunderte und tausende an Stunden in einem Spiel zu verbringen, die hier in den Sog zieht. Hinzukommt die tolle Cinematographie, die durch die Totalen manchmal regelrecht realistisch anmutet, die den Film sehenswert macht – auch wenn man mitunter meint, man würde Regieanweisungen wahrnehmen.

Einhundertvier

Komplett ohne Regieanweisungen kommt Jonathan Schörnigs „Einhundertvier“ aus. Dafür ist auch gar keine Zeit – und schon gar nicht der Ort. 2019 begleitete er das Seenotrettungsschiff „Eleonore“ mit Kapitän Claus-Peter Reisch, der für den Ausgang der hier gezeigten Mission, unterstützt von Mission Lifeline, erneut mit einer Strafzahlung belegt, aber später freigesprochen wurde.

Doch das ist nicht das Thema des Films, vielmehr werden wir mitten in die Rettungsmission geworfen – ohne Atempause. Das Beiboot „Lifeline 3“ ist gerade auf dem Weg zu einem Schlauchboot mit 104 Geflüchteten, das beginnt, Luft zu verlieren. Die Besatzung nimmt Kontakt auf, verteilt Rettungswesten, beginnt zu bergen. All das begleiten wir in Echtzeit. Und als wäre das nicht genug, taucht dann die libysche Küstenwache auf, was die Geflüchteten in Panik versetzt. Schon als Zuschauer:in ist das kaum zu ertragen. Was angemessen erscheint, wenn der Spiegel gerade mit einer Aussage von Olaf Scholz titelt, Deutschland müsse endlich im großen Stil abschieben.

Jonathan Schörnig kommt aus Leipzig, eine der Kameraperspektiven steuerte der Dresdner Mediziner, Reporter und Musiker Johannes Filous bei. Vier Auszeichnungen, inklusive der Goldenen Taube für den besten deutschen Dokumentarfilm, konnten sie damit abräumen. Verdientermaßen!

© DOK Leipzig 2023/Einhundertvier, Jonathan Schörnig
Home Sweet Home

Aufrüttelnd auf ganz andere Weise ist Home Sweet Home von Annika Mayer. Als ihre Mutter die alten Super-8-Filme der Familie des Vaters wegwerfen will, interveniert die Filmemacherin und sieht zunächst eine scheinbar heile Familienwelt während des Wirtschaftswunders. Doch sie kennt das eigene ungute Gefühl, wenn sie ihrem Opa begegnet ist. Und sie weiß, dass die Ehe ihrer Großeltern nicht glücklich war. Doch was ihr Vater und ihre Oma ihr dann erzählen, nimmt eine Form häuslicher Gewalt an, die ihr unbekannt war.

Mayer kombiniert die Erzählungen ihrer Großmutter mit ebenjenen Heile-Welt-Aufnahmen und möchte hierdurch dazu auffordern, hinter die Fassade zu schauen. Denn laut Statistik des Bundeskriminalamtes gab es 2022 in Deutschland 126.349 weibliche Opfer von partnerschaftlicher Gewalt. 133 Frauen wurden getötet. Es geht ihr darum, das gesellschaftliche Schweigen zu brechen und Frauen zu ermutigen, ihre Stimme zu erheben.

© DOK Leipzig 2023/Home Sweet Home, Rolf Schirm
Vika!

Ein angenehmes Kontrastprogramm bildet da DJ Vika, die Agnieszka Zwiefka über mehrere Jahre begleitet hat. Die 84-Jährige ist die vermutlich älteste DJane Europas und heizt dabei vor allem jungen Leuten in Polen und darüber hinaus ein. Ihre Positivität ist ansteckend und macht endlich mal Mut, älter zu werden. Doch schaut man dem Film länger zu, bekommt dieses Bild Brüche. Vika ist einsam und versucht mit ihren Auftritten, eine Lücke zu füllen. Aber sie macht unermüdlich weiter, auch nach der Coronapandemie.

Ein kürzeres Porträt über die rüstige Rentnerin ist derzeit in der Mediathek von arte zu sehen.

© DOK Leipzig 2023/Vika!, Agnieszka Zwiefka
Bei uns heißt sie Hanka

Einen Film mit regionalem Bezug hat Grit Lemke gedreht. In der Lausitz aufgewachsen, war alles Sorbische in ihrer Kindheit schattenhaft. Nun taucht sie mit „Bei uns heißt sie Hanka“ nicht nur in das sorbische Erbe, sondern auch in das zeitgenössische Leben der anerkannten Minderheit ein.

Der Film ist als nächstes beim Filmfestival Cottbus zu sehen, der deutsche Kinostart ist derzeit für den 18. April 2024 geplant.

© DOK Leipzig 2023/Bei uns heißt sie Hanka, Grit Lemke
While the Green Grass Grows

Ein Kleinod der Kontemplation und der berührenden Trauerarbeit bildet schließlich Peter Mettlers fast dreistündiger Dokumentarfilm While the Green Grass Grows. Er nimmt darin nicht nur Abschied von seinen Eltern, sondern verwebt dies mit der (Zeit-)Geschichte und grundlegenden Fragen des Seins. Dafür muss man Geduld haben, aber das Zusehen lohnt sich. Die Jury des Internationalen Wettbewerbs hat hierfür die Goldene Taube für den besten Langfilm vergeben.

Ebenfalls zu empfehlen sind der armenische LGBTQIA+-Film „Beauty and the Lawyer“, der gegen alle Klischees gebürstet ist, sowie der Kurzfilm getty abortions von Franzis Kabisch.

Text: Nadine Faust

Zum Titelfoto: © DOK Leipzig 2023/Knit’s Island, Ekiem Barbier, Guilhem Causse, Quentin L’helgoualc’h

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