Takt und Gefühle

Meine Begleitung verspätete sich. Ich hatte seinem Werben nachgegeben, war zu einem offenen Kurs für einen karibischen Tanz gegangen und wartete nun auf den Einlass. Viele fremde Menschen sollten dort sein und ich konnte vorläufig nichts tun, als auf mein Handy zu starren und mich an meiner Wasserflasche festzuhalten. Meine Begeisterung war grenzenlos.

Ein paar Minuten später wurde der Raum geöffnet und das Gewusel begann. Ein Strom von Worten zirkulierte zwischen Menschen in Häufchen, mittendrin ein paar verpeilte Gesichter, die meinem ähnelten. Vielen kannten sich, weil sie das regelmäßig machten. Ob ich einer davon sein würde, wusste ich noch nicht. Dann ging’s los. Grundschritte wurden erklärt und eifrig und allein trockengeübt.

Talentfrei und zweifelnd

Ich war ein bisschen überfordert. Zwar hatte mich meine Begleitung schon an einige Basics herangeführt, aber Schritte merken kann ich mir genauso gut wie mathematische Formeln – nach fünf Minuten ist alles weg. Außerdem kann ich keine Takte raushören. In meinem Kopf sehe ich Musik in Bildern und ich kann Rhythmen fühlen. Aber ich kann sie nicht in gleichgroße Stücke hacken. Takt mitzählen ist kontraproduktiv, weil ich dann mit der Verarbeitung des Wortes beschäftigt bin.

Hinzukommt, dass Tanzunterricht seit der Jugendweihe in mir unangenehme Erinnerungen wachruft. Denn ich gehörte zu den „Glücklichen“, die keinen festen Tanzpartner hatten und durch missmutige männliche Teenager durchgereicht wurden. Beste Voraussetzungen.

Das einzige, was ich auf meiner Liste verbuchen konnte, war Erfahrung. Ich wusste, wie ich am besten lerne, welche Informationen ich brauche, um alles gut umzusetzen. Ich konnte die richtigen Fragen stellen.

Zack im Takt

Doch all das war nicht wichtig, denn bald wurde es ernst. Nach der ersten Erklärung wurde in Paaren getanzt. Einige Takte bewegen, dann Partnerwechsel. Dazwischen die nächste Figur und ein paar philosophische Grundlagen des Tanzes.

Ich fühlte mich wie beim Speeddating. Binnen weniger Sekunden Kontakt aufzunehmen, sich in fremder Menschen Hände zu begeben und sich dann gemeinsam auf einem Quadratmeter zu bewegen, das war interessant. Ich merkte nach kurzer Zeit, wer sich seiner Sache sicher fühlte und wer nicht wusste, was er tat. Und ich musste lernen, damit umzugehen. In meinem Kopf war ich in einem Rollenbild gefangen: Der andere wird schon wissen, was richtig ist. Dass auch ich die Führung übernehmen kann, auf emotionaler Ebene, das war mir nicht klar. Tanzen lernen war Teamwork und meine Erklärung könnte meinem Tanzpartner nützen. Soweit dachte ich aber nicht.

Thema Führung

Viele Paartänze, von denen ich gehört habe, nutzen ein simples Schema: einer führt, der andere folgt. Und natürlich ruft der Partner nicht: „Jetzt bitte große Drehung nach rechts und nach fünf Metern bitte die kleine nach links!“ Es gibt Gesten, mit denen der Leader anzeigt, was vom Follower als nächstes gemacht wird. Beide Partner lernen diese wie Vokabeln. Anders formuliert: Es herrscht ein Gleichgewicht. Innerhalb des Paares gibt es immer Körperkontakt und ein gewisses Maß an (körperlicher) Spannung. Sobald man den Kontakt aufbricht und die Spannung verändert, wird eine Figur getanzt oder die Richtung gewechselt.

Laut meiner Freunde fällt das sowohl Leadern als auch Followern schwer. Die Leader müssen die Kommandos besser beherrschen, denn sie müssen sie geben. Viele Gesten wiederum geben bereits Richtung und Figur grob vor, sodass das Reagieren leichter fällt. Auch das richtige Maß ist wichtig und bei jedem Menschen anders. Manche Follower spüren den Kontakt mit etwas mehr Druck besser, andere fühlen sich schnell eingeengt. Ich hatte Tanzpartner, mit denen ich mich in einem Käfig wähnte, und es gab Leute, bei denen ich nichts spürte. Sich auf den Partner einzulassen und anzupassen, das ist ein Prozess.

Für Follower besteht das Problem darin, dass sie sich führen lassen. Ein Stück Kontrolle abzugeben, das kann später toll sein. Aber solange man sich noch nicht vertraut, ist das sehr schwer. Ich bin manchen Partnern einfach weggetanzt, weil ich in eine andere Richtung wollte. Es gibt auch Partner, gegen deren Führung ich mich gewehrt habe, weil ich mich bei ihnen nicht aufgehoben gefühlt habe.

Reden auf anderer Ebene

Wichtig ist: Es ist eine Form der Kommunikation, an der mindestens zwei Menschen beteiligt sind. Und man sollte sich nicht schämen, die eigenen Grenzen deutlich zu machen. Genauso sollte man auch mit den Grenzen des Partners respektvoll umgehen.

Das Beängstigende und Schöne beim Tanz ist, dass er ohne Worte auskommt. Menschen, die klare Ansagen und/oder Sicherheit brauchen, könnten davon überfordert sein. Andere wiederum haben Probleme, sich verbal auszudrücken oder verstanden zu werden. Da Tanzen viel über Gesten, Blicke und Bewegungen funktioniert, klappt das bei diesen Menschen besser.

Magie zwischen den Takten

Wenn dann aber alles funktioniert, die Schritte ins Muskelgedächtnis gewandert sind und man einen Partner gefunden hat, mit dem es gut läuft, dann macht das Spaß. Es sind die Momente, in denen ich nicht mehr auf meine Füße starre oder die Augen schließe, damit ich nichts vergesse. Sondern anfange, meinen Partner anzugucken, mich der Musik hinzugeben und nur noch fühle, was er vorgibt.

Wenn ich mich traue, loszulassen und durch den Raum zu schweben, wohlwissend, dass ich ihn wiederfinde. Oder dass ich mich in seine Arme fallenlasse und weiß, dass er mich hält. Dass ich aufhöre darüber nachzudenken, ob ich später noch Smalltalk machen muss, weil wir ja nicht tanzen können, ohne Namen, Studiengang und Alter auszutauschen. Dass ich irgendwann nichts mehr wahrnehme als seine Hand auf meiner Schulter, den Duft seines Weichspülers in meiner Nase und den Luftzug, der uns beim Weg durch den Raum umgibt.

Psychohygiene

Das befreit mich beim Tanzen: Dass ich mich traue, jemand anderes zu sein, für die Dauer des Liedes. Dass ich körperlich Kämpfe austragen kann, die ich im Alltag unterdrücken musste. Oder dass ich mich traue, anhänglich zu sein und Beistand zu suchen. Dass ich Emotionen sehe und sie in Bewegungen verwandle, und dass ich sie mit meinem Partner gemeinsam verarbeiten kann, ohne, dass wir das verbal erörtern. Das ist das Reinigende beim Tanzen.

Text: Vivian Herzog

Foto: Amac Garbe

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