Wie aus zwei kaputten Familien eine schöne Liebe entstehen kann, das erzählt das Staatsschauspiel Dresden im Kleinen Haus. Daniela Löffner hat dafür das Drama der Bildhauerin und Autorin Christa Winsloe umgeschrieben und für die Bühne aufbereitet. Ein Werk, das die Brücke schlägt von 1931 bis ins Jahr 2023.
Alles beginnt mit den Geschwistern Henry und Sylvia, deren Mutter Monate vor der Handlung verstorben ist. Henry, der Ältere, scheint gut damit umzugehen, widmet sich Party und Freunden. Seine Schwester dagegen versinkt in Trauer, erträgt weder Mensch noch Leben. Bis sie eines Tages von Henrys Freund Fritz zum Abendessen bei dessen Mutter Sybille eingeladen wird. Doch das Essen spielt bald keine Rolle mehr, denn beide Frauen sind voneinander angetan. Doch auch diese Familie hat einen Verlust zu verkraften, der Vater ist verschieden.
Blut ist nicht Wasser
Die Familie und ihre Dynamik spielen eine zentrale Rolle im Stück. Fritz und Sybille bilden eine Einheit, die der Tod des Vaters stört, aber nicht wirklich verändert. Ganz anders Sylvia und Henry: Der Vater betrachtete die beiden als Konkurrenz um die Liebe der Mutter und flüchtete ins Ausland. Ihm eigen sind seine Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, und seine Fähigkeit, Alkohol in jeder Lebenslage zu konsumieren. Mit dem Verlust der Mutter verliert diese Familie das letzte Bindeglied. Und der Vater ist den beiden in ihrer Trauer kein Halt.
Menschen entwickeln sich
Die Liebe beider Frauen beschleunigt diese Dynamik noch: Sybille liebt ihren Sohn, hadert jedoch damit. Die Beziehung zu Sylvia führt sie von ihrer Rolle als Mutter hin zur Geliebten, was zu einem ergreifenden Monolog am Ende führt. Für Sylvias Vater wiederum ist die Verurteilung der Liebe der beiden und seine Angst um sie der letzte Versuch, väterliche Autorität zu erzeugen, die nie da war. Und Fritz wiederum fühlt sich von beiden Frauen verlassen und muss lernen, dass seine Mutter eigene Wege geht. Auch für Henry bietet das Stück drastische Momente, die der Figur Tiefe verleihen. Das Wechselspiel der Geschwister, die kaum miteinander agieren und dennoch ähnliches fühlen, ist gut inszeniert.
Ungleichgewicht
Das Stück tragen die Titelfiguren Sylvia, gespielt von Leonie Hämer, und Sybille, verkörpert von Fanny Staffa. Dabei wandelt sich die Präsenz im Laufe der Zeit. Sylvia ist laut in ihrer Trauer und diskutiert mit dem Vater, weswegen sie aneinandergeraten. Sie wirkt dabei trotzig, aber sehr klug. Später verliert sie jedoch an Profil. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr wird sie zum liebestollen Teenager, der die Konflikte der Geliebten kaum wahrnimmt. Die tote Mutter spielt auch keine Rolle mehr. Die mehrdeutigen Anlagen, die die Figur hatte, verkümmern.
Anders dagegen Sybille. Sie kämpft mit sich, spricht zum Publikum, philosophiert über ihr Erwachen und gibt dem Stück einen emotionalen Anker. Fanny Staffa liefert in dieser Rolle und besonders dem Monolog eine beeindruckende Performance, die einen auch nach dem Schlussapplaus nach Worten suchen lässt.
Gesellschaft kaum vorhanden
Die Intoleranz gegenüber queeren Frauen wird im Stück nur tangiert. Stattdessen wird die Ablehnung von manchen Figuren instrumentalisiert, um ihre eigenen Gefühle zu verschleiern. Oder es interessiert sie nicht, weil sie mit sich selbst beschäftigt sind. Das Stück setzt also offensiv kein Statement für eine tolerante Gesellschaft, aber es ist eines. Seine Existenz zeigt, dass queere Figuren jenseits der Travestie im Theater Platz haben.
Der äußere Rahmen
Herzstück der Inszenierung ist das Bühnenbild. Die Zuschauer:innen sitzen in sechs bzw. drei Reihen um die Spielfläche herum. Das bedeutet, dass sie den Spielenden manchmal bis auf wenige Zentimeter nahekommen. Und dass diese von den Sitzreihen aus auf- und abgehen. Aber auch, dass das Geschehen von allen Positionen gut erkennbar ist. Das hat hier sehr gut funktioniert. Außerdem werden die Zuschauer:innen eingebunden, indem bei einer Partyszene glänzende Bänder über die Bühne gespannt werden und die Zuschauer:innen diese festhalten. Das löst die Grenze zwischen Fiktion und Realität auf und baut eine stärkere Bindung zu den Darstellenden auf.
Die Spielfläche
Ansonsten ist das Bühnenbild relativ spartanisch: Tisch und Säulen aus Acrylglas, Schneiderpuppen und Stoffbahnen von der Decke für Schneiderin Sybille. Die Stoffbahnen haben eine vielseitige Wirkung: Sie schneiden den Raum, machen ihn optisch undurchsichtiger. Genauso, wie die Konflikte vielschichtiger werden. In der zentralen Liebesszene wird eine der Bahnen zum Fluss, der die beiden Frauen zueinander bringt. Die zehnminütige Sequenz, in der sich die beiden Figuren scheinbar sinnlich dem Spiel hingeben, berührt nur wenig. Denn die Beziehung ist zu flott geschildert, ihre Basis nicht genug ausgearbeitet.
Dennoch erzeugt es Eindruck, wenn Sylvia auf dem Höhepunkt der Zuneigung zu „You make me feel“ von Aretha Franklin auf dem Kronleuchter in der Mitte schwingt. Denn dann fühlt sich die Welt in all ihren Farben, in allen Buchstaben wundervoll lebendig an.
Ein schöner Abend
„Sylvia und Sybille“ ist ein kurzweiliges Stück, bei dem man sich über 125 Minuten keine Sekunde langweilt. Es sieht wunderschön aus, die spielerische Leistung ist gut und es spinnt wichtige Themen ineinander. Dennoch glänzen die Konflikte nur am Anfang und am Ende und manch Nebenhandlungsstrang verläuft sich.
Das Stück läuft am 30. Juni um 19.30 Uhr im Kleinen Haus.
Text: Vivian Herzog
Auf dem Foto: Leonie Hämer, Fanny Staffa
Foto: Sebastian Hoppe