Campuskolumne

„Es kann nicht nur darum gehen, was in der Welt ist, sondern auch darum, wie die Welt aussehen sollte“, schreibt Autor Martin Linke in seiner Kolumne von vergangener Woche. Darin sehe ich eine Gefahr.

Wissenschaftler sind wie Journalisten. Sie berichten über das, was in der Welt geschieht. Weil niemand alles direkt erfahren kann, sind wir auf die Medien angewiesen – Klaus Kleber sagt uns, dass Patrick Lange den Ironman gewonnen hat oder dass die Brexit-Verhandlungen stagnieren. Wir selbst waren weder auf Hawaii noch in Brüssel. Genau darin liegt die Verantwortung der Medien: Sie müssen versuchen, so objektiv wie möglich zu berichten. Natürlich wird „echte“ Objektivität auf ewig ein Ideal bleiben. Auch wenn es die „Welt da draußen“, also die Realität, gibt: Niemand kann sie genau so erfassen. Wahrnehmung ist immer perspektivisch und selektiv. Vorgeformt durch Werte und Interessen. Aber um ihre verzerrte Wahrnehmung möglichst wenig an Rezipienten weiterzugeben, dürfen sich Journalisten, um ein Bonmot Hanns Joachim Friedrichs zu bedienen, eben mit keiner Sache gemein machen – auch nicht mit einer guten.

Auch Wissenschaftler sind Berichterstatter. Sie berichten uns darüber, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sozialwissenschaftler – Politikwissenschaftler, Soziologen oder Kommunikationswissenschaftler zum Beispiel – wollen die soziale Wirklichkeit erklären. Verstehen, warum Menschen auf die Straße gehen, eine Partei wählen, eine Boulevardzeitung lesen. Bewerten wollen sie das nicht. Wenn Journalisten eine Verantwortung haben, uns neutral über die Welt zu berichten, dann müssen Wissenschaftler sie neutral erklären. Das heißt nicht, dass Wissenschaft wertfrei ist. Vielmehr ist es ja gerade ein Wert in sich, einen möglichst nüchternen Blick auf die soziale Wirklichkeit zu werfen und sich der Grenzen dieses Versuchs bewusst zu sein. Natürlich ist das nicht in Gänze möglich: Schon in der Auswahl der Forschungsfrage liegt schließlich ein Werturteil – man untersucht, was einen interessiert.

Es stimmt: Wissenschaft kann nicht neutral sein. Aber davor zu kapitulieren und es gar nicht erst zu versuchen, wäre genau die falsche Antwort. Deshalb will ich Martin an dieser Stelle unbedingt widersprechen: Subjektivität ist in der Wissenschaft nur dann kein Problem, wenn sie bewusst geschieht! Ein Wissenschaftler muss in seiner Arbeit stets transparent machen, wie er zu Frage, Methoden und Fällen gekommen ist. Er muss zeigen, wo mögliche Verzerrungen durch die eigene Perspektive liegen können. Genau deshalb haben gute sozialwissenschaftliche Studien umfangreiche Methodenkapitel. Es geht nicht um Objektivität, sondern um intersubjektive Nachvollziehbarkeit.

Natürlich hat Wissenschaft auch eine gesellschaftliche Funktion, ja, eine kritische Funktion. Wissenschaftler sollen ja gerade nicht in ihrem Elfenbeinturm sitzen, sondern mit ihren Erkenntnissen durchaus an die Öffentlichkeit gehen. So, wie Journalisten Kommentare schreiben, geben Wissenschaftler Handlungsempfehlungen und hinterfragen den „gesunden Menschenverstand“. Aber das sollte auf empirischen, überprüfbaren Aussagen und Argumenten beruhen, nicht auf Werturteilen. Denn die sind nicht objektiv begründbar. Dieser Anschein darf nicht erweckt werden, indem man sie in wissenschaftliche Aussagen einbezieht.

Niemand erwartet von Naturwissenschaftlern, die Welt zu bewerten. Ein Physiker, der den Ausbau Erneuerbarer Energien fordert, weil er persönlich davon überzeugt ist, würde wohl kaum Gehör finden. Doch warum erwarten alle von Soziologen und Politikwissenschaftlern, dass sie die soziale Wirklichkeit nicht nur verstehen und erklären, sondern auch noch bewerten? Es ist wohl der Wunsch nach einer besseren Welt, der in den meisten von uns verankert ist. Dieser Wunsch ist legitim. Aber Wissenschaft erfasst die Welt nur. Verbessern müssen sie andere.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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