Heute startet dieses vielschichtige europäische Familienepos in den deutschen Kinos und bewegt dort mit seiner filmischen Darstellung glaubwürdiger Figurenkonstellationen und beeindruckendem Schauspiel.
Willkommen in der norwegischen Ära
Wer sich für spannendes zeitgenössisches europäisches Kino interessiert, kommt mittlerweile kaum noch an der norwegischen Filmlandschaft vorbei. Zum Glück schaffen es auch immer mehr cineastische Erzeugnisse aus diesem spezifischen Teil Skandinaviens in die deutschen Programmkinos.
Auf dem Weg dahin gewinnen sie dann regelrecht kleine Fangemeinden für sich, zuletzt geschah dies früher in diesem Jahr mit der außergewöhnlichen Filmtrilogie „Oslo-Stories“ des Regisseurs Dag Johan Haugerud. Die drei Teile dieser norwegischen Filmreihe konnten vor allem vermittels Mund-zu-Mund-Propaganda ein begeistertes Publikum finden.
Natürlich geht es hier nach wie vor um absolute Geheimtipps, welche es niemals in die Top Ten der meistbesuchten Kinofilme des Jahres schaffen würden, aber eben in bestimmten Kreisen von sich reden machen und wichtige Preise auf den großen internationalen Filmfestivals gewinnen. So konnte der Teil „Oslo-Stories: Träume“ beispielsweise als erste norwegische Produktion überhaupt den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale für sich behaupten.
Diese Entwicklung starker Filmproduktionen aus Norwegen, oder zumindest mit bedeutender norwegischer Produktionsbeteiligung, gibt es allerdings nicht erst seit Kurzem. Dieser Trend hält bereits seit einigen Jahren an und einer seiner wichtigsten Vertreter*innen ist der Regisseur Joachim Trier, dessen neuer Spielfilm „Sentimental Value“ heute in den deutschen Kinos startet.
Gemeinsam einsam und doch nicht allein
Die Filme von Joachim Trier zeichnen sich durch eine eher ruhige, unaufgeregte Erzählweise aus, die besonders durch eindrückliche Figurenzeichnung dennoch eine nachwirkende emotionale Wucht entfaltet. Trier beschäftigt sich mit den unausgesprochenen Gefühlen von Menschen, die vielleicht gar nicht angemessen in Worte zu fassen sind, aber dennoch spürbare Auswirkungen auf deren Handeln und Umfeld haben.
Komplexe Figuren interagieren miteinander, stoßen aufeinander, reiben und klammern sich aneinander – und sind letztlich doch oft auf sich selbst zurückgeworfen. Es geht immer wieder um individuelle Gefühle des Verloren-Seins, welche die interagierenden Menschen eigentlich miteinander gemein haben, sich dies aber nicht offen und ehrlich mitteilen können, sondern im besten Fall eher gemeinsam aushalten.
Nun mag das in dieser Beschreibung erst einmal eher herunterziehend klingen, aber in dieser existenzialistischen Auseinandersetzung lässt sich in Filmen, die von Joachim Trier inszeniert wurden, stets auch so viel Schönes und Lebensbejahendes finden. Das bewiesen bisher schon eindrucksvoll seine Filme „Oslo, 31. August“ und „Der schlimmste Mensch der Welt“. Sein neuestes Werk reiht sich ohne Mühen in diese großartige Reihe ein.
Ein spannend-schwieriges Familiengefüge
In „Sentimental Value“, einer europäischen Koproduktion zwischen Norwegen, Frankreich, Dänemark, Deutschland und Schweden, werden die Dynamiken innerhalb einer Familie auf ambitionierte Weise und äußerst vielschichtig dargestellt. Hierbei werden aus der Sicht von heute gleich mehrere Generationen einer besonderen Familiengeschichte inszeniert und dabei die unbewusste intergenerationelle Weitergabe von Traumata spürbar gemacht.
Auf der Beerdigung ihrer Mutter, zu welcher Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) zu Lebzeiten scheinbar eine enge Beziehung hatten, treffen die beiden Töchter in ihren Dreißigern unvermittelt auf ihren alternden Vater, den Filmregisseur Gustav (Stellan Skarsgård). Es wirkt so, als wäre der Beruf des Vaters stets das bestimmende Element in dessen Beziehung, oder eher Nicht-Beziehung zur Familie gewesen.
Töchter und Vater haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen und selbst davor war eine Annäherung höchstens im Kontext eines gemeinsamen Filmdrehs möglich. Die Eltern waren bereits seit einiger Zeit voneinander getrennt. Gustavs Karriere als gefeierter und nachgefragter Filmemacher liegt ebenfalls mehrere Jahre in der Vergangenheit. Nun möchte er doch noch ein letztes großes Werk schaffen und erhofft sich dafür die Zusammenarbeit mit seinen Töchtern.
In dieser Konstellation, welche an sich schon genug Konfliktpotenzial birgt, entfalten sich nach und nach noch ganz andere Ebenen der Auseinandersetzung, denn Gustav will sich in seinem finalen Film der äußerst beschwerlichen Geschichte seiner Familie stellen.
Das Haus als rissiges Bindeglied
Zusammengehalten wird dieses wackelige und explosive Familiengeflecht mehr schlecht als recht durch das alte Haus der Familie inmitten von Oslo. Hier haben nicht nur Nora und Agnes ihre Kindheit verbracht, sondern auch ihr Vater Gustav, dessen Eltern und Großeltern das Haus bereits bewohnten.
Das Gebäude fällt durch seine altertümliche Architektur und geringe Größe zwischen all den modernen, ausufernden Bauten drumherum einerseits aus dem Rahmen, geht zugleich aber förmlich dazwischen unter, bleibt unbemerkt. Es ist wie die vierte Figur in diesem Gefüge aus Vater und Töchtern, ein verbindendes Element, welches aber auch viel Familiengeschichte in sich birgt, die unausgesprochen zwischen ihnen steht.
Interessant ist hierbei, dass ein Teil der Familie Borg, so der Familienname von Gustav, ursprünglich aus Schweden stammten und in Norwegen als Hinzugezogene Fuß fassen mussten. Diese und noch deutlich belastendere Familienhintergründe entblättern sich nun in der filmischen Auseinandersetzung des Regisseurs mit seiner eigenen Vergangenheit sowie der emotionalen Beschäftigung der Töchter mit ihrem Vater.
Bezeichnenderweise fällt das Familienhaus parallel dazu förmlich auseinander. Es wird von einem Riss in seiner Mitte gezeichnet, welcher aufgrund einer Fehlkonstruktion wohl bereits seit seiner Entstehung mit ihm wächst und permanent sein Fundament angreift.
Ein fordernder Film, der sich lohnt
Joachim Trier und sein Team haben aus diesem komplexen Figurengebinde ein beeindruckendes filmisches Konstrukt geschaffen. Der Cast ist hervorragend zusammengestellt, alle beteiligten Schauspieler*innen funktionieren beeindruckend in ihren Rollen. Besonders hervorzuheben ist die großartige Renate Reinsve, welche sich wieder einmal die Seele aus dem Leib spielt (wie auch schon in „Der schlimmste Mensch der Welt“), vor allem in Kombination mit dem starken Stellan Skarsgård.
Die vielschichtige Handlung wird aus mehreren Perspektiven heraus erzählt, teilweise fungiert sogar das Haus selbst als Erzählstimme. Der einzige wirkliche Kritikpunkt daran ist, dass der Film streckenweise schon fast zu ambitioniert und dadurch beinahe überladen ist. Hier werden viele Emotionen, Narrative und Blickwinkel auf einmal in der Luft gehalten, was als Zuschauer*in mitunter auch überfordern kann.
Zudem wirkt die Schwere der einzelnen Schicksale allein teilweise schon erdrückend auf der Leinwand, sodass deren Zusammenspiel miteinander nahezu melodramatisch erscheint. In weniger gefühlvollen Händen hätte das Ganze schnell an eine überzogene Telenovela erinnern können. Inszeniert durch Joachim Trier kommen unter all dieser Last immer wieder auch die kleinen berührenden Lichtblicke und hoffnungsvollen Momente hervor, welche die emotionale Tragweite letztlich erst glaubwürdig machen.
Dadurch ist „Sentimental Value“ großes europäisches Erzählkino, dessen anspruchsvolle Komplexität eher noch zu mehrfachen Sichtungen einlädt. Zumindest ein Kinogang sei hiermit unbedingt ans Herz gelegt, am besten mit einer Packung Taschentücher – nur zur Sicherheit.
Text: Carl Lehmann
Foto: Starkes Band: Nora (Renate Reinsve) und Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas). © PLAION PICTURES