In Amsterdam geht nach der Wahl alles seinen Gang — Europafreunde freut’s.
Erhitzte Diskussionen in Bars und Cafés. Menschen, die ins Wasser fallen, weil sie im Gehen die Nachrichten auf ihrem Handy lesen. Zeitungen mit großen, roten, fetten Schlagzeilen allerorten. So hätte es sein können, das Amsterdam am Tag nach der Wahl. Ist es aber nicht. Stattdessen: Sonne, Grachten, Fietjes. Am Vormittag meint man noch, sich in ein überdimensioniertes holländisches Dorf verirrt zu haben, am Nachmittag kann man vor Touristenmassen an mancher Stelle kaum treten. Die Straßen sind ja auch nicht gerade breit. In Amsterdam geht also alles seinen Gang — und das nach einer Nacht, in der Mark Rutte von einem „Fest für die Demokratie“ sprach und Peter Altmaier die Niederlande via Twitter kurzerhand zum „Champion“ krönte.
„Die Leute sind sehr entspannt mit der Wahl“, meint die Studierende Lea. „Bis vor zwei Wochen gab es nicht einmal Wahlplakate!“ Neben ihr sitzt ihre Freundin Verena. Nickend zeigt sie ein Handyfoto eines solchen „Wahlplakates“. Auf einem großen versammeln sich 24 kleine Wahlplakate, die Schrift der oberen Plakate ist ohne Nackenverkrampfungen nicht zu lesen. Samen Vooruit von der sozialdemokratischen PvdA (Partei der Arbeit) neben Geert Wilders und seiner Ein-Mann-Partei PVV (Partei für die Freiheit). Der Hoffnungsträger von GroenLinks, Jesse Klaver, neben Gert-Jan Siegers von der Christen Unie. Und unten prangt Werbung für „House of Cards“. Wahlplakat auf Holländisch.
Verena und Lea studieren Politische Kommunikation im Master an der Universität von Amsterdam, aber gerade sitzen sie am anderen Ende der Stadt, an der Freien Universität (VU). Der Raum ist viel zu kalt, noch dazu nahen die Deadlines. Egal. Schließlich geht es hier um die Zukunft Europas. Die beiden engagieren sich bei der Amsterdamer Gruppe von „Pulse of Europe“, die jeden Sonntag in über 40 Städten Menschen für proeuropäische Ideen auf die Straße bringt. Sieben Aktive haben sich zusammengefunden, vier Deutsche und drei Holländer. „Viele Niederländer sind eher nüchtern, wenn es um Europa geht“, meint Verena. Das wollen sie und ihre Mitstreiter ändern. Auf der Tagesordnung steht die Demo für den kommenden Sonntag, die erste nach der Wahl. Doch die ist auch hier nur am Rande ein Thema. Terminplanungen und Lautsprecherboxen sind vorerst wichtiger. Irgendwie muss man sich schließlich behaupten gegen den Bauernmarkt, der zur gleichen Zeit auf dem Museumsplein stattfindet. Dann aber muss ein neuer Slogan für die Banner her, das „Bleibt bei uns“ der letzten Wochen ist obsolet geworden. Das schlechte Ergebnis für Wilders ist für viele hier vor allem eines: ein Ja zu Europa.
„Erleichtert“ habe er die Wahlergebnisse zur Kenntnis genommen, sagt Silvester, Design-Dozent an der VU und Chef der Amsterdamer „Pulse of Europe“-Gruppe. Er hält kurz inne. „Nicht völlig erleichtert — aber wenigstens ein bisschen.“ Die Wahl sei ein „starkes Symbol für die Demokratie“, die hohe Wahlbeteiligung von 80 Prozent durchaus Wählern geschuldet, die extra an die Urne gegangen sind, um Wilders zu verhindern. Auch die schnelle Rückkehr der Normalität, wenn sie denn überhaupt je weg war, hält Silvester für ein gutes Zeichen: „Wenn Wilders gewonnen hätte, wäre die Stimmung ganz anders.“
Trotzdem — die Kritik an Europa verschwindet nicht über Nacht, nicht mit einem schlechten Wahlergebnis, nicht einfach so. Im Gegenteil, auch Ruttes VVD, sagt Silvester, sei nicht gerade euphorisch, wenn es um die Union geht. „Die gesamte niederländische Politik ist ein wenig nach rechts gerückt.“ Nicht wenige machen die „Methode Rutte“, wie es die Süddeutsche nennt, für seinen Wahlsieg verantwortlich: Wilders-Wähler zu Rutte-Wählern machen, indem er sich nach rechts orientiert, wenn es gerade nützlich scheint. Mit Aktionen wie den Brief etwa, den Rutte „an alle Niederländer“ schrieb und sie aufforderte, sich „normal“ zu verhalten oder „wegzugehen“. Auch sein entschiedenes Auftreten gegenüber der türkischen Regierung habe bei vielen Niederländern Eindruck gemacht. Einen „kühlen Pragmatiker“ nennt die Zeitung den niederländischen Politiker.
Das Ja zu Europa — es ist ein vorsichtiges Ja. Die Wahl in Frankreich naht mit großen Schritten, einen Wahlsieg Marine Le Pens am 23. April mag sich hier keiner vorstellen. „Es gibt noch viel zu tun“, meint Silvester. Vielleicht übersetzen sie die „Bleibt bei uns“-Banner auch einfach ins Französische.
Text und Foto: Luise Martha Anter