Plötzlich Lehrer

In sächsischen Schulen herrscht Lehrernotstand. Wie kaum ein anderes Bundesland setzt Sachsen daher auf Seiteneinsteiger in den Lehrerberuf. Mit Erfolg?

Franziska Gärtner ist Germanistin. Germanistin mit Master. Eigentlich wollte sie danach an der Uni bleiben, Seminare geben, vielleicht habilitieren. Doch das klappte nicht, sie arbeite kurz in einer Bank. „Das machte mich aber nicht glücklich.“ Dann hatte ihre Schwiegermutter eine Idee: „Werde doch Lehrerin!“ Jetzt, knapp zwei Jahre später, steckt Franziska Gärtner tatsächlich mitten im Alltag einer Lehrerin an einer sächsischen Oberschule. Sie unterrichtet Deutsch, bald auch Ethik und Kunst. Und das, obwohl sie nie für ein Lehramtsstudium eingeschrieben war. Ihren richtigen Namen, den möchte sie nicht nennen.

Franziska Gärtner ist Seiteneinsteigerin – eine von über tausend. Eine von denen Menschen also, die ohne ein fünfjähriges Lehramtsstudium und ohne Staatsexamen Schüler aller Klassenstufen unterrichten und diesen das Alphabet und die Grundrechenarten ebenso beibringen wie Algebra oder den Unterschied zwischen Alliteration und Anapher. Seiteneinsteiger werden nur in eine niedrigere Entgeltgruppe eingestuft, verdienen also etwas weniger als „echte“ Lehrer. Wie fast alle anderen Bundesländer reagiert der Freistaat mit dieser Maßnahme auf einen leer gefegten Lehrermarkt.

„Für den Lehrermangel gibt es mehrere Ursachen“, erklärt Manja Kelch, Pressereferentin im Sächsischen Staatsministerium für Kultus (SMK). So werden Lehrer in Sachsen, anders als in den meisten Bundesländern, erst ab 2019 verbeamtet. Der Freistaat, sagt Kelch, hatte daher einen „Wettbewerbsnachteil“ – über eine Statistik, wie viele in Sachsen ausgebildete Lehrkräfte in andere Bundesländern ziehen, verfügt auf Anfrage aber weder das SMK noch das für das Lehramtsstudium zuständige Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK). Der wesentliche Grund für den Notstand an sächsischen Schulen: Es gibt schlicht zu wenig Lehrer. Jahrelang hat der Freistaat bei der Ausbildung gespart, obwohl immer mehr Lehrer in Rente gehen und die Geburten steigen. Das bestätigt auch Manja Kelch: „Die universitäre Weichenstellung erfolgte zu spät.“ Erst zum Wintersemester 2012/2013 wurde die Zahl der Studienplätze für das Lehramt an sächsischen Universitäten auf zunächst 1.700, später auf 2.000 und für das Wintersemester 2017/2018 auf 2.375 erhöht – die auch alle besetzt sind. Doch das Lehrerstudium ist lang. Wer heute sein Studium anfängt, steht erst in sieben Jahren fertig ausgebildet vor einer Klasse. Zudem brachte die Flüchtlingsbewegung Sachsen im Jahr 2015 tausende neue Schüler, die unterrichtet werden wollten. Das vergrößerte die Not erneut.

Seiteneinsteiger einzustellen ist keine völlig neue Maßnahme. Zum ersten Mal hat die Kultusministerkonferenz ihre Zahl 2001 erhoben. Damals hatten die 16 Bundesländer insgesamt 845 Seiteneinsteiger eingestellt. In den folgenden Jahren unterrichteten mal mehr, mal weniger von ihnen. 2015 waren es dann 1.506 Seiteneinsteiger deutschlandweit, davon 227 in Sachsen. Seitdem steigt ihre Zahl deutlich an. Mittlerweile ist Sachsen nach Berlin das Bundesland mit den meisten Seiteneinsteigern: Von 4.250 bundesweit eingestellten Seiteneinsteigern arbeiten 1.086 im Freistaat. Trotzdem: Zum zweiten Schulhalbjahr 2017/18 konnte der Freistaat nur 622 der 660 freien Lehrerstellen besetzen – dabei sind nur 38 Prozent der neuen Lehrer grundständig ausgebildet, haben also ein Lehramtsstudium absolviert. 62 Prozent sind Seiteneinsteiger.

Doch so verbreitet wie Seiteneinsteiger in deutschen Klassenzimmern ist die Kritik an ihnen: zu wenig didaktisches Wissen, eine Abwertung des Lehrerberufs, eine Gefahr für die Kinder. In der ZEIT gab es kürzlich Berichte von Seiteneinsteigern zu lesen, die weinend vor Klassen stehen – und Schulleitern, die lieber Unterricht ausfallen lassen würden, als ihn Seiteneinsteigern anzuvertrauen. Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft fordert, auf Seiteneinsteiger in Grundschulen ganz zu verzichten: Viel zu spezifisch seien die pädagogischen und psychologischen Anforderungen, viel zu heterogen die Schülerschaft. Und als kürzlich eine PISA-Studie zu dem Schluss kam, dass die Leistungen der Schüler von der Qualität der Lehrer abhingen, machten einige Medien daraus eine Warnung vor Seiteneinsteigern. Auch Franziska Gärtner sagt, dass sie anfangs Fehler gemacht habe und beispielsweise eine Leistungskontrolle als Strafe angesetzt hat – das kannte sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit. Doch sie hat sich belesen und von Kollegen Feedback geholt, ist souverän geworden. „Die Kritik“, sagt sie heute, „prallt an mir ab.“ Natürlich seien sie keine ideale Lösung. Doch: „Was wäre die Alternative? Keine Lehrer vor die Klassen stellen?“ Mittlerweile, sagt sie, sehe sie sich gar nicht mehr als Seiteneinsteigerin. Sondern als ganz normale Lehrerin – eine, die einerseits Lebenserfahrung und Berufspraxis mit in den Klassenraum bringt, mit „Computertechnik und Bewerbungen“. Andererseits habe sie eine ordentliche Ausbildung.

Denn aus der Germanistin M. A. wird nicht im Handumdrehen eine Deutschlehrerin, aus dem Diplommathematiker kein Mathelehrer. „Es gibt zahlreiche Maßnahmen, um die Unterrichtsqualität zu sichern“, sagt Manja Kelch vom SMK. Das beginnt schon bei den Anforderungen: Interessenten müssen ein Hochschulstudium vorweisen, abgeschlossen mindestens mit einem Master, Magister oder Diplom. Nicht alle Bewerber erfüllen diesen Standard: Eigentlich wollte Sachsen zum 1. Mai 2018 400 Seiteneinsteiger einstellen – doch von über 500 Bewerbern wurden nur 300 angenommen. Der Rest hat die fachlichen Anforderungen nicht erfüllt. Bevor die Seiteneinsteiger ihre erste Unterrichtsstunde halten, absolvieren sie dann eine dreimonatige Einstiegsfortbildung. Die theoretische Vorbereitung gibt es aber erst seit 2017. Seitdem hat sich der Anteil derer halbiert, die nach der Probezeit abbrechen: Von 20 auf zehn Prozent. Nach diesem Theorieteil starten die Seiteneinsteiger in den Schulalltag – müssen aber parallel weiter selbst die Schulbank drücken. Denn zwei Bausteine fehlen ihnen noch: eine wissenschaftliche Ausbildung und die praktische Qualifizierung. Die Reihenfolge dieser Bausteine hängt von der Schulart ab: Grundschullehrer starten mit vier Semestern an der Uni, weil sie gleich spezielle didaktische Kenntnisse im Umgang mit Kindern erwerben sollen. Erst danach erhalten sie mit ihrem einjährigen Vorbereitungsdienst die endgültige Lehrbefähigung – dann aber gleich für zwei Fächer. Ein Jahr lang hospitieren und den ersten eigenen Unterricht geben, stets begleitet von „echten“ Lehrern oder erfahrenen Seiteneinsteigern als Mentoren. Wer hingegen an einer weiterführenden Schule ist, also einem Gymnasium, einer Ober- oder Berufsschule, startet mit der schulpraktischen Ausbildung: An deren Ende steht die Lehrbefähigung für das Fach, das sich aus der Vorqualifikation ableiten lässt. In den nächsten zwei Jahren müssen auch sie für zwei Tage pro Woche zurück an die Uni, um ihr zweites Fach zu studieren.

An dieser Stelle kommt Thomas Barany ins Spiel. Der Bildungswissenschaftler der TU Dresden koordiniert das „Programm für die Aus- und Weiterbildung von Seiteneinsteigern“, das das Zentrum für Lehrerbildung, Schul- und Berufsbildungsforschung (ZLSB) der TU gemäß einer Vereinbarung mit dem SMK seit Februar 2016 anbietet. Angehende Grundschullehrer belegen die Bildungswissenschaften Psychologie und Pädagogik sowie die Grundschuldidaktiken, also Deutsch, Mathe und Sachkunde. Wer keinen Abschluss hat, aus dem sich ein anderes Grundschulfach ableiten lässt, muss auch das nachholen. Das gleiche gilt für Seiteneinsteiger an weiterführenden Schulen: Je nach Vorqualifizierung studieren sie ein oder zwei Fächer. „Das sind dieselben Inhalte, dieselben Formate wie bei Lehramtsstudierenden“, erklärt Thomas Barany. Wie normale Lehramtsstudierende erhalten Seiteneinsteiger eine wissenschaftliche und didaktische Ausbildung. Nur die Quantität des Lernstoffs sei etwas geringer: Seiteneinsteiger müssen weniger Leistungspunkte erzielen und kein Staatsexamen absolvieren. „Was wir hier machen, ist keine Schnellbesohlung.“ Er erlebe die Seiteneinsteiger als hochmotiviert, reflektiert, kritisch. Dass es mit Seiteneinsteigern in Sachsen so gut laufe, liege aber vor allem an dieser berufsbegleitenden Ausbildung. „Sachsen ist soweit wie kein anderes Bundesland in puncto Seiteneinsteiger.“ Verständnis für die „Verteufelung“ von Seiteneinsteigern, wie Barany sagt – man sucht es vergebens.

Nicht so bei Kerstin Borowski. Sie ist Lehrerin für Mathe und Physik an einem Gymnasium in einer sächsischen Kleinstadt. Grundständig ausgebildet, seit Jahrzehnten im Schuldienst. Zu Beginn des Schuljahres 2016/17 kam die Schulleiterin auf sie zu – mit einer neuen Aufgabe: Sie sollte Mentorin eines Seiteneinsteigers werden. „Bereut habe ich das nicht“, sagt Borowski heute. „Aber es war sehr anstrengend.“ „Es“, das heißt: einem 49-jährigen Diplom-Mathematiker beibringen, wie man 14-Jährigen Mathe vermittelt. Dass die sich eventuell weniger für Primzahlen interessieren als für Pausen. Dass Unterricht keine Vorlesung ist. Seit Anfang des Jahres ist ihr Schützling „selbstständig“. Sorgen mache sie sich keine, er sei jetzt ein guter Lehrer. Auch das Kollegium nehme ihn ohne Skepsis auf. „Aber ein Naturtalent war er nicht“, sagt sie und lacht. Insgesamt hält sie Seiteneinsteiger für keine „ideale“ Lösung. Borowski fürchtet zudem, dass sie auf Kosten des Lehrerstudiums gehen: Warum soll man sieben Jahre studieren und ein Staatsexamen machen, wenn man es auch nebenbei lernen kann? Die Lehrerin glaubt: „Nachhaltig ist das nicht.“

Stichwort Zukunft: Bleiben Seiteneinsteiger ein unverzichtbarer Teil des sächsischen Schulsystems? „Ab dem Jahr 2020 werden die positiven Effekte der erhöhten Studienkapazitäten schrittweise spürbar sein“, heißt es dazu von Manja Kelch aus dem SMK. Denn Sachsen macht den Lehrerberuf attraktiver: Das Handlungsprogramm „Nachhaltige Sicherung der Bildungsqualität in Sachsen“ sieht zum Beispiel eine Verbeamtung der Lehrer vor oder die bessere Bezahlung von Grundschullehrern. Die 1,7 Milliarden Euro für diese Maßnahmen sind bereits im sächsischen Doppelhaushalt 2019/20 enthalten. Im SMK geht man daher davon aus, dass Sachsen seinen Lehrerbedarf an den Grundschulen ab dem Schuljahr 2022/23 „aus eigener Kraft“ decken könne, an den weiterführenden Schulen ab 2024/25. „Die Bedeutung von Seiteneinsteigern“, sagt Pressereferentin Kelch, „wird abnehmen.“ Doch abseits der Zahlen zeigt sich ein anderes Bild. Thomas Barany glaubt, dass Seiteneinsteiger die Debatte über das Verhältnis von Theorie und Praxis im Lehramtsstudium bereichern. Kerstin Borowski glaubt, dass sie immerhin viel durch die Arbeit mit dem Seiteneinsteiger gelernt und ihren eigenen Unterricht reflektiert habe. Und Franziska Gärtner glaubt ganz einfach, dass sie „bis an ihr Lebensende“ Lehrerin bleibt. Die quantitative Bedeutung mag abnehmen – doch Menschen, die über den Seiteneinstieg Lehrer geworden sind, werden das Schulsystem noch lange prägen.

Text: Luise Martha Anter

Foto: Amac Garbe

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